Elvira Manthey: Die Hempelsche

    Nein, mit literaturästhetischen Maßstäben kann ein Rezensent diesem Buch nicht beikommen.  Hier wird keine literarische Fiktion erzähft, nicht kunstvoll mit den stilistischen Möglichkeiten der deutschen Sprache geflirtet, keine nur mögliche unter den Welten gezeigt Es geht schlicht um das, was war, und vor allem, wie es war: Elvira Manthey, im Oktober 1931 in Magdeburg als Elvira Hempel geboren, hat Ihre Geschichte aufgeschrieben: „Das Schicksal eines Kindes", wie es im Untertitel des Buches heißt, „das 1940 vor der Gaskammer umkehren durfte".

    Über die Verbrechen des Faschismus ist viel gesagt und geschrieben worden. Das düstere Kapitel Euthanasie und Auslöschung unwerten Lebens findet dabei weit weniger Beachtung als der Massenmord an Juden, die Greuel der Konzentrationslager oder die Bilanzierung der Kriegsfolgen.  Euthanasie wird in der Offentlichkeit vor allem verschämt totgeschwiegen.  Sicher, es gibt Gedenkstätten wie die im Psychiatrischen Krankenhaus Bernurg, es gibt Statistiken und pauschale Erklarungen, daß sich so etwas nicht wiederholen dürfe.  Wirkliche Betroffenheit aber löst das nicht aus, eher die Verdrängung aus dem Bewußtsein.  Gefährlich in einer Zeit, da aus medizinischer, politischer und ethischer Sicht über Themen wie Sterbehilfe oder Sinn und Wert behinderten Lebens diskutiert wird.

    Betroffen dagegen macht das Einzelschicksal, das uns aus dem unscheinbar grau broschürten Buch „Die Hempelsche" entgegentritt. Ein Schicksal, das exemplarisch ist für Tausende und dennoch einzigartig, denn Elvira Manthey hat überlebt, obwohl sie schon auf der Schwelle zum Tod gestanden.  Ihre Sprache ist einfach, schmucklos, der Sicht des Kindes, das sie damals war, angenähert.  Sie wertet nicht, kommentiert die Ereignisse kaum.  Dem Leser bietet sich keine Distanz zum Geschehen, das ihn so unmittelbar betrifft wie die Achtjährige vor nunmehr 45 Jahren.  Die Tochter eines Arbetsscheuen gerät zwangsläufig in die Mühlen der fäschistischen Justiz, die Asozialität nach dem Erbgesundheitsgesetz als vererbbare Krankheit einstuft. Außer den Mechanismn aber - die Einlieferung ins Irrenhaus Uchtspringe, der Gang in die Gaskammer, die sie durch einen Zufall überlebt, die Einweisung ins Zuchthaus, die vielfältigen Formen der Mißachtung von einfachster Menschenwürde - außer diesen Mechanismen wird erschreckend deutlich, daß diese nur durch willig funktionierende Menschen durchsetzbar waren.

    Der authentische Bericht der Elvira Manthey aber umfaßt nicht nur Zeit des Faschismus.  In den Jahren danach ist der anfänglichen Analphabetin - der Schulbesuch war mit Begründung einer angeblichen Debilität abgebrochen worden - die gesellschaftliche Eingliederung nicht
    eben leicht gemacht worden, von Rehabilitation ganz zu schweigen.

    Außerordentlich betroffen und nachdenklich macht der Anhang des Buches.  Elvira Manthey bemüht sich seit Jahren mit Petitionen an den Landtag von Sachsen-Anhalt sowie die Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth um die Herausgabe ihrer seit 1938 im Landeskrankenhaus Uchtspringe/Altmark archivierten Akte, die sie als erbkrank brandmarkt.  Die nichtssagenden und hinhaltenden Antwortschreiben der diversen Institutionen und Politiker sind abgedruckt Mit Hinweis auf bestehendes Recht könne eine Originalakte nicht herausgegeben werden; lediglich Kopien hat man Frau Manthey überlassen, aus denen das Buch ausführlich zitiert.

    Bestehendes Recht: dazu gehört unfäßbarerweise immer noch jenes Erbkrankheitagesetz aus dem Jahr 1933, das in den westichen Besatzungszonen nicht - wie in der sowjetischen - ausdrücklich zum Verbrechen gegen die Menschlichkeit deklariert worden war.  Wer da also glaubt, das im Hempel-Verlag Lübeck erschienene Buch „Die Hempelsche" betreffe ein nur historisches Problem, der irrt leider.  Elvira Manthey muß weiter um die Wiederherstellung ihrer Menschenwürde kämpfen, und das in einem Land, das seine demokratisch gewählten Vertreter auf der Basis eines Grundgesetzes zur Achtung der Menschenwürde verpflichtet ...
     

    (Dr.  Paul D. Bartsch für mdr 1 / Radio Sachsen-Anhalt)



    Das Buch ist erschienen im Hempel-Verlag Heinz Manthey, Lübeck
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