Museum der Wahnsinnigen Schönheit

 
 
 
 

Ein erläuternder Text von
Prof. Dr. Elisabeth Weber
Philosophin
Dep. of Germanic, Slavic & Semitic Studies
Univesity of California, Santa Barbara

aus: "Wahnwelten im Zusammenstoß"
Die Psychose als Spiegel der Zeit
Akademie Verlag
Herausgegeben von Rudolf Heinz, 
Dietmar Kamper und Ulrich Sonnemann

Eigensinn

Es war einmal ein Kind eigensinnig und tat nicht, was seine Mutter haben wollte. Darum hatte der liebe Gott kein Wohlgefallen an ihm und ließ es krank werden, und kein Arzt konnte ihm helfen, und in kurzem lag es auf dem Totenbettchen. Als es nun ins Grab versenkt und die Erde über es hingedeckt war, so kam auf einmal sein Ärmchen wieder hervor und reichte in die Höhe, und wenn sie es hineinlegten und frische Erde darüber taten, so half das nicht, und das Ärmchen kam immer wieder heraus. Da mußte die Mutter selbst zum Grabe gehen und mit der Rute aufs Ärmchen schlagen, und wie sie das getan hatte, zog es sich hinein, und das Kind hatte nun erst Ruhe unter der Erde.1
Wenn dieses kürzeste der Märchen der Gebrüder Grimm2 heutzutage nicht mehr in den Märchensamrnlungen für Kinder zu finden ist, so gehörte es im 19. Jahrhundert zu dem Märchenschatz, der vielen Kindergenerationen im deutschsprachigen Raum mit seinen Überraschungen, guten wie bösen, aufwartete. Denn die Brüder Grimm betrachteten ihre Märchensammlung, wie sie in ihrer »Vorrede« zur 2. Auflage 1822, der ersten Gesamtausgabe,3 erklärten, als ein »Erziehungsbuch«, das als solches selbstverständlich für Kinder bestimmt war:
Wir suchen für ein solches [Erziehungsbuch] nicht jene Reinheit, die durch ein ängstliches Ausscheiden alles dessen, was Bezug auf gewisse Zustände und Verhältnisse hat, wie sie täglich vorkommen, und auf keine Weise verborgen bleiben können und sollen, erlangt wird [... ]. Wir suchen die Reinheit in der Wahrheit und geraden, nichts Unrechtes im Rückhalt bergenden Erzählung. Dabei haben wir jeden für das Kindesalter nicht passenden Ausdruck in dieser neuen Auflage sorgfältig gelöscht. Sollte man dennoch einzuwenden haben, daß Eltern ein und das andere in Verlegenheit setze, und ihnen anstößig vorkomme, so daß sie das Buch Kindern nicht geradezu in die Hände geben wollten, so mag für einzelne Fälle die Sorge recht seyn, und dann von ihnen leicht ausgewählt werden; im Ganzen, das heißt, für einen gesunden Zustand, ist sie gewiß unnöthig. Nichts besser kann uns vertheidigen, als die Natur selber, welche gerade diese Blumen und Blätter in dieser Farbe und Gestalt hat wachsen lassen; wem sie nicht zuträglich sind nach besonderen Bedürfnissen, der kann nicht fordern, daß sie deshalb anders gefärbt und geschnitten werden sollen. Oder auch, Regen und Tau fällt als eine Wohltat für alles herab, was auf der Erde steht, wer seine Pflanzen nicht hineinzustellen getraut, weil sie zu empfindlich sind und Schaden nehmen könnten, wird doch nicht verlangen, daß Regen und Tau darum ausbleiben sollen.
Für einen »gesunden Zustand« stellen diese Märchen also keinerlei Gefahr dar, sie sind »gerade« und bergen nichts Unrechtes »im Rückhalt«. Die für Kinder unpassenden Ausdrücke wurden »sorgfältig gelöscht«. Die Natur selber ist Garant: diese Geschichten sind wie Regen und Tau, Blumen und Blätter.

Im zu Anfang des 19. Jahrhunderts vorherrschenden Kontext der Reformpädagogik, die, wie Friedrich Kittlers Aufschreibesysteme es analysieren, den Müttem die Schlüsselrolle in der Alphabetisierung und Sozialisation zuschrieb, könnte die Geschichte vom. eigensinnigen Kind als reaktionäres Anachronismus aus vergangenen Tagen gelesen werden. Dieser Kontext wird bestimmt von Reformpädagogen wie Pestalozzi und Stephani, denen zufolge das Medium der mütterlichen Stimme und des mütterlichen Mundes eine schmerzlose Alphabetisierung garantiert, indem es diese direkt an die mütterliche Liebe koppelt.4

Der Muttemmund erlöst also die Kinder vom Buch. Eine Stimme ersetzt ihnen Buchstaben durch Laute [...] dem phonetischen Experiment geht eine Psychologie oder Psychagogik hervor, die Schriften restlos konsumierbar macht. [... ] Wenn die Kinder später im Leben Bücher zur Hand nehmen, werden sie keine Buchstaben sehen, sondern mit unstillbarer Sehnsucht eine Stimme zwischen den Zeilen hören. Und diese Stimme tut Unerhörtes. Sie sagt kein Wort, geschweige denn einen Satz. Sie spricht nicht, sie macht sprechen.5
So haben auch Jacob und Wilhelm Grimm lesen gelernt6. Was veranlaßt sie also, in ihr Märchen-, das heißt Erziehungsbuch eine Geschichte wie die vom eigensinnigen Kind aufzunehmen, deren Mutterdarstellung mit zeitgenössischen Erziehungsidealen offensichtlich unvereinbar ist?

Die bereits erwähnte »Vorrede« nimmt ganz im Geiste der Zeit »die alte Rhetorenmetonymie Blatt/Blatt wörtlich« und inszeniert eine »Urschrift als Genesis von Schrift aus Natur«. »Unmögliches, daß nämlich Buchstaben in freier Natur vorkommen, wird Ereignis.« Was Friedrich Kittler für einen anderen Zusammenhang gezeigt hat, läßt sich hierher übertragen: der Urschrift wird »im Schreibfeld« exakt derselbe Platz zugewiesen, wie ihn »die Mutterstimme als Naturanfang im Feld von Lesen und Sprechen« einnimmt.7

Wenn diese Mutterstimme in der Geschichte vom eigensinnigen Kind nirgends vorkommt, so wird die »Urschrift als Genesis von Schrift aus Natur« nicht nur in der »Vorrede«, sondern auch in den »Anmerkungen zu den einzelnen Märchen«8 angeführt, mit denen Jacob und Wilhelm Grimm ihre erste Gesamtausgabe 1822 versehen:

Das Herauswachsen der Hand aus dem Grabe ist ein weit verbreiteter Aberglaube und gilt nicht blos von Dieben, sondern von Frevlem an gebannten [d. h. für heilig und unverletzlich erklärten9] Bäumen, von Vatermördem. [...] Es ist nur eine bloße Veränderung der nämlichen Idee, wenn aus dem Hügel und Mund Begrabener Blumen oder beschriebene Zettel, ihre Schuld oder Unschuld anzuzeigen, wachsen. Es ist auch Sage und Glauben, daß dem, welcher seine Eltern schlägt, die Hand aus der Erde wächst [...].10
Hände, Blumen, beschriebene Zettel: ihre Zeichenhaftigkeit scheint hier dieselbe zu sein und wird, als ob der Grad ihrer Naturhaftigkeit jeweils derselbe wäre, dieser Einen Natur zugeschrieben. Zeichen und Schrift sind Urteilssprüche über Schuld und Unschuld, und diese der Erde entwachsenen Wahrsprüche sind unmittelbar deutbar. Nebenbei und wie selbstverständlich wird der relativ unspezifische Eigensinn explizit in Diebstahl, Frevel an gebannten Bäumen, Beleidigung der Eltern, ja Vatermord umgedeutet, erhält also die Konnotation des schlimmsten Verbrechens.

Nun komme es, heißt es in der Vorrede, auf den »rechten Gebrauch« dieser Märchen an, und solch rechter Gebrauch, finde »nichts Böses« heraus, sondern, wie ein schönes Wort sage, »ein Zeugnis unseres Herzens«. Weiter liest man: »Kinder deuten ohne Furcht in die Sterne, während andere nach dem Volksglauben die Engel damit beleidigen.« Kinder deuten auch ohne Furcht Wörter, und zwar weniger, indem sie einem verborgenen Sinn nachforschten, als indem sie lesen oder hören, was dasteht. Da steht, daß Eigensinn einem Verbrechen gleichkommt und daß darauf Tod steht und nicht nur Tod, sondern die Unmöglichkeit zu sterben. Da steht auch, daß die »Ruhe unter der Erde« einer Belohnung gleichkommt, Belohnung nämlich dafür, daß der Eigen-sinn nach ärgster Bestrafung endlich - unter der Erde - besiegt und aufgegeben wurde.

Genau jener Eigensinn, von dem jedes Kind weiß, was er affirmiert: einen eigenen Sinn, einen Wunsch, ein Begehren und damit die Übertretung eines Verbots. Daß darauf Strafe steht, ist nicht verwunderlich. Diese ist banal und unausweichlich wie die kindliche Schuld auch, die immer schon vor jedem Verbot besiegelt ist. Meine Aufmerksamkeit gilt hier nicht dieser Strafe, sondern der Tatsache, daß der Eigensinn und die Repression dieses Eigensinns mit dem Tod des Kindes nicht aufhören. Erst mit der Züchtigung noch im Tod - und zwar durch die Mutter, was entscheidend ist - erst mit der Züchtigung des Toten, wenn nicht des Todes, erschöpfen sich beide.

Was im Verhalten der Mutter als archaisches Überbleibsel aus längst vergangenen Zeiten erschien, könnte sich als Indiz für einen Widerstreit erweisen, der von keiner Reformpädagogik überbrückt werden kann: dem zwischen einem naturgegebenen »inneren Sinn namens Mutterstimme«11, der die Wörter mit verstehbarem Sinn und die Subjekte mit einer Seele12 belehnt, und einem verglichen mit solch vermeintlicher Innerlichkeit notwendig äußerlichen Eigen-sinn, der sich der Hermeneutik entzieht und der zu verstehenden Mutter oder Natur, denen beiden Gehorsam zu leisten wäre, mit keinem erlernten oder erfühlten Sinn und keinem Verstehen entspricht, sondern einfach in nicht zu belehrender Tautologie sich selbst entgegensetzt. Dem Imperativ der Sinnproduktion setzt der Eigensinn die bloße Tatsache seines Ergehens gegenüber. Es steht also Sinn gegen Eigensinn; endlose, sich in jeder zukünftigen Lektüre neu produzierende Liebe zur Mutter gegen das Begehren des Anderen, die Seele gegen die Affirmation der Geschlechtlichkeit.13

Der einfache Tod kann nun, das hören Kinderohren, verspielt wer den, zum Beispiel durch Eigensinn. Brave Kinder werden folglich als letzte Belohnung einen einfachen Tod erhalten, der nicht durch eine Züchtigung kompliziert und verdoppelt werden muß. Denn darum geht es: um die Verdoppelung des Todes, um den Tod im Tod.

Bezeichnenderweise gibt es in der Geschichte vom eigensinnigen Kind keine dritte Instanz; der »liebe Gott« verdoppelt nur die Instanz der Mutter. Beide überbieten sich gegenseitig: der liebe Gott in der Sanktion des Eigensinns zu Lebzeiten, die Mutter in der des Eigensinns post mortem. Kein Vater, keine Geschwister erscheinen, nur das stumme Duell zwischen Mutter und Kind, von dem nicht einmal gesagt wird, ob es sich um einen Jungen oder um ein Mädchen handelt14. Mit dieser Abwesenheit des Vaters stimmt überein, daß Jacob und Wilhelm Grimm in ihrer Anmerkung die aus der Erde herausragende Hand mit Vatermord in Verbindung bringen. Der Vater ist tatsächlich eine Leerstelle, die Frage ist nur, warum: aufgrund welchen Verschwindens, wenn es nicht Mord war.

Wäre dasselbe Märchen nicht undenkbar mit einer Rollenverteilung, die ein geschlechtlich bestimmtes Kind und den Vater aufeinandertreffen ließe? Wäre es nicht auch undenkbar mit einer anderen Frau in einer der beiden Hauptrollen? Das stumme Duell, das hier inszeniert wird, definiert einen Kontext, in dem es nicht möglich ist, bis drei zu zählen.

Bis drei zählen zu können, ist Lacan zufolge die Bedingung für die Öffnung der symbolischen Ordnung, also des Raums des Begehrens. Und bis drei zählen zu können gehört nach Freud zu den Bedingungen des Witzes. Freud rechnet zu den besonders gelungenen Witzen diejenigen, in denen einer sich über sein eigenes Wesen lustig, sich selbst zum Gegenstand des Witzes macht, und dies charakterisiert in auffälliger Weise die jüdischen Witze. Freud:

Ich weiß übrigens nicht, ob es sonst noch häufig vorkommt, daß sich ein Volk in solchem Ausmaß über sein eigenes Wesen lustig macht.15
Solche Selbstdistanzierung, die den Raum für einen Dritten offen hält, spricht die Anerkennung dieses Dritten und die Anerkennung eines anderen Gesetzes explizit aus, wenn Gegenstand des Witzes nicht nur die eigene Person, sondern der Signifikant ist, der ihr den Eigennamen verleiht. Hierher gehört der berühmte Witz von Katzmann, der nach Frankreich emigriert und, dieses seine Herkunft ahnen lassenden Namens überdrüssig, beschließt, ihn durch Übersetzung zu ändern: aus Katz wird »chat«, aus Mann wird »I'homme«: Zukünftig wird sein Name Chalom lauten ... Daniel Sibony kommentiert:
[. ..] um seine (vielleicht) jüdische Herkunft besser zu verbergen, die ein deutscher Signifikant nur schlecht verdeckt, versetzt er diesen Signifikanten in eine andere Sprache und fällt mitten in seine Herkunftssprache zurück, die plötzlich bloßliegt, in seine >wahre< Herkunftssprache, die er zweifellos nicht einmal spricht, aber die ihn spricht, die ihm folgt, ihm vorausgeht [... ]. Der Andere, das Unbewußte ist hier in dieser Höhlung, in dieser Leere, um die sich mehrere Sprachen im Kreise drehen.16
Vom unumgänglichen Dritten der symbolischen Ordnung wie des Witzes könnte man wohl nicht weiter entfernt sein als in der Geschichte vom eigensinnigen Kind, in der sich kein leerer Raum öffnen kann, der das Spiel der Signifikanten erlaubte, das Spiel einer Sprache, von der das Subjekt besprochen und gesprochen wird, längst bevor es sich in ihr ausdrückt. Die Frage, wie man eine fremde Sprache sprechen könne, ohne eine eigene zu besitzen17, erhält hier eine Antwort: jene fremde Sprache spricht uns, bevor wir sie sprechen. Die von Freud angeführten jüdischen Witze erkennen dies an: die Inzidenz des Anderen als des Ortes der Sprache. In einer solchen Perspektive wird die Rede vom in der Natur vorgegebenen Sinn der Wörter buchstäblich sinnlos. Wird eine Sprache als eigene und eigen wie eine Mutter und eine Muttersprache erachtet, so um den Preis, über den Ort der Sprache, der sich radikal anderswo, auf einem anderen Schauplatz auftut, hinwegzugehen.

In dem stummen Duell der Geschichte vom eigensinnigen Kind, Duell, das keine Öffnung auf einen Dritten erfährt, kann das Kind - hier weder Mädchen noch Junge - der Mutterinstanz nicht entkommen, weil sie noch das letzte Gesetz, das des Todes - dieses uneinholbaren Anderen -, außer Kraft setzt. Die Züchtigung oder Verfolgung bis in den Tod hinein erfolgt im Namen der Mutter, der Natur und im Namen des lieben Gottes. Sie richtet sich gegen einen Eigensinn, gegen eine Sinnlichkeit, die auf dem einzigen Eigenen beharrt, das kein Eigentum beansprucht: der Trennung, das heißt auf einem Zwischen-Raum und einer Zwischen-Zeit. Die Mutter des eigensinnigen Kindes schließt jenes Zwischen, die Leere des Zwischen, sie spricht nicht, und sie verwirft den Diskurs des Anderen18: die Instanz des Symbolischen, die in die Ordnung des Spiegelbildes und des Gleichens ein irreduzibles Anderes einbrechen läßt. Die Mutter annulliert und ersetzt in der Grimmschen Geschichte die Instanz des Gesetzes, des Dritten, des Namens durch ihr eigenes Gesetz, das die Abwesenheit des Dritten besiegelt. Und dies bis in den Tod hinein.

Der Tod wird damit ebenso annulliert wie das Gesetz und wie das Begehren. Den Tod verschließt ein Nicht-sterben-können, das als Strafe auf den Eigensinn steht. Dieser Tod im Tod zielt auf die letzte Ausmerzung des Eigensinns, der nie ein Eigentum beansprucht, sondern die Sinnlichkeit und das Begehren der Trennung affirmiert, der Gemeinschaft und Gemeinde mit der Mutter Natur aber fremd bleibt.

Nun weiß jedes Kind um die Unmöglichkeit seiner Unschuld; jedes Kind weiß, daß der Name des eigensinnigen Kindes der seine ist. Es wird ihm darum gehen, den Eigensinn zu bewahren, die Züchtigung aber zu unterlaufen, unmöglich zu machen, das mütterliche Gesetz zu brechen. Vor allem jedoch wird es versuchen, die Szene, das Bild der Strafe zu vergessen, die Todesdrohung ebenso wie die Bestrafung noch im Tod nicht nur zu verdrängen, sondern angesichts des massiven Charakters der Drohung das tote eigensinnige Kind, dessen Name der seine ist, in einer geheimen Grabkammer, in einer Krypta einzuschließen. Und mit ihm die mit ihm »lebendig begrabenen Worte«, die das unsagbare Verbot bezeichnen, die jedoch einen »positiven Wert« haben, weil das Verbot übertreten wurde, bevor das Begehren, dessen Erfüllung die Ubertretung des Verbots bedeutete, verdrängt wurde19 (daher ja Oberhaupt die erbitterte Bestrafung des Kindes).

Es wurde bereits gesagt, daß die Strafe der Mutter noch über die »des Anderen«, die der göttlichen Instanz hinausgeht, wodurch eben diese Instanz als göttliche annulliert wird. Allmächtig ist hier nur die Mutter: sie hat das Recht noch über den Tod. Sie allein beansprucht, das Gesetz für das Kind zu sein, was gerade bedeutet, daß sie kein anderes Gesetz anerkennt, ja Oberhaupt, daß es Gesetz gibt, nicht anerkennt. Vor allem legen die scheinbare Geschlechtslosigkeit des Kindes, die Sprachlosigkeit der Szene und die Intervention des »lieben Gottes« nahe, daß alles, was am Leib des Kindes an den »väterlichen Beitrag erinnert, [von der Mutter] vemeint, annulliert wird, und zuerst all das, was daran erinnern könnte, daß das Kind die Frucht einer geschlechtlichen Vereinigung ist und daß es als sexuiertes Wesen auch der Sohn [oder die Tochter] des Vaters ist. Die Verwerfung des Namens des Vaters hat hier ihren Ursprung.«20 Und damit nicht genug. Vom eigensinnigen Kind wird gefordert, nicht eigensinnig, sondern als Kind seiner Mutter einen Sinnes mit dieser zu sein: einen Sinnes in jedem Sinn, also auch einen Leibes mit ihr. Daß es sich weigert, bewirkt auf seiten der Mutter die radikale Ausstoßung des Kindes, die ihm nicht nur das Leben, sondern auch den Tod raubt.21 Daraus folgt, daß es als eigen-sinniges, eigenes, von der Mutter getrenntes Subjekt gar nicht existieren sollte, mit anderen Worten, daß die Mutter unfähig war, ihm einen von ihr unabhängigen Leib zuzusprechen. Dieser Zuspruch aber ist unerläßlich, und zwar einer Zeitlichkeit zufolge, die ihn nötig macht, noch bevor ein Kind ihn hören kann: vor seiner Geburt. Erweist eine Mutter sich als unfähig, ihrem Kind noch vor seiner Geburt einen von ihr unabhängigen, »imaginierten Leib« zuzusprechen, der selbstredend völlig verschieden vom realen Fötus und geschieden vom Leib der Mutter ist, der aber dem Subjekt, dem Kind »einen Bezugspunkt außerhalb seiner selbst bieten« und ihm »erlauben wird, sich als >andere/n< dieser Coenästhesie« mit der Mutter zu erfahren, die in einer »manchmal angstvollen, manchmal seligen Immanenz erlebt wird«22, so ist eine der möglichen Ursachen für die Ausbildung der Psychose gegeben.

Bevor die Trennung der beiden Wesen in der Realität stattfindet, existiert das Kind bereits als eine/r und als andere/r, und dies öffnet die Bahn, zunächst aufseiten der Mutter, sodann aufseiten der Mutter und des Kindes, für das mögliche Spiel der Identifikationen und Anerkennungen.23
Ist das Kind dazu verurteilt, einen Sinnes und einen Leibes mit seiner Mutter zu sein, so wird es nie die imaginierte Einheit seines Leibes erfahren können. »Es gibt also kaum eine oder gar keine Möglichkeit für dieses zukünftige >Subjekt<, irgendein >Anderswo< seiner chaotischen Immanenz gegenüberzusetzen, das der Einheit, die es erst erobern muß, als Signifikant dienen würde.«24 Zur Eroberung der - stets imaginären - >Einheit < bedarf es eines radikalen Anderswo, einer, um mit Lacan zu sprechen, radikalen Exzentrizität.

Der hartnäckige Eigensinn des Kindes mag sich jetzt als ein Versuch erhellen, einer absoluten Immanenz, das heißt in letzter Konsequenz, der Zerstückelung in der Psychose zu entgehen. Die Bestrafung durch die Mutter erklärt sich in diesem Licht als die erbitterte Reaktion auf den Eigen-Sinn eines Anderen, der ihrem Gesetz widersteht und dessen Widerstand sie nur als illegitim Rebellion verstehen kann, geradeso, als ob ein eigenes Körperteil sich plötzlich verselbständigt hätte, das, da es sich der Beherrschung beharrlich entzieht, ab- und ausgestoßen wird.

Was die Kinder betrifft, die diese Geschichte möglicherweise hören und aufs genaueste verstehen, so ist nicht auszuschließen, daß das eine oder das andere angesichts der Drohungen versuchen wird, das eigensinnige Kind in seiner Gruft einzuschließen mit all seinen Wünschen, Affirmationen und Forderungen. Mit den Worten seines Begehrens, die »von einer Katastrophe geschlagen wurden, die sie aus dem Verkehr gezogen hat«25. Von dieser Krypta her werden jedoch die Worte, das eigensinnige Kind, der Eigensinn des Kindes ihre subversive T'ätigkeit fortsetzen.

Gegen diese subversive T'ätigkeit aber werden die psychischen Instanzen, deren Gleichgewicht jene bedroht, eine Abwehr aufbauen; eine Abwehr, deren effektivste sich aus paranoischen Projektionen zusammensetzt. Diese aber werden für den begrabenen Dritten Stellvertreter suchen (und zwangsläufig aufspüren) und sie als vermeintliche Verfolger unerbittlicher Verfolgung ausliefern. Genau diesen Mechanismus: eine unter anderem durch paranoische Projektionen motivierte und genährte Verfolgung des Anderen noch bis in den Tod hinein, haben übrigens Horkheimer und Adomo im Antisemitismus ausgemacht26.

Ohne daß hier eine gerade, direkte geschichtliche Linie gezogen werden soll, gibt es immerhin zu denken, daß von Luther bis Hegel ein gewisser Eigensinn der Juden - und zwar sowohl biblische Charakterisierung Israels, es sei »ein Volk hart von Nacken«27, als auch die Auslegung der Schrift und ihres Sinns - zu Verstocktheit, Hochmut, Kälte, Lüge, Verkehrtheit, Hass, Verrücktheit umgemünzt wurde28. Und immerhin gibt es zu denken, daß es bis zur Anklage der blutigsten Verbrechen nie weit war, daß 1543 schon Luther den hohen Herren (»Unsern Ober Herrn«) als drastische Maßnahmen gegen die Juden das Verbrennen der Synagogen und den Arbeitszwang anempfiehlt, ohne sich darum im übrigen der Hoffnung hinzugeben, daß dies »helffen wolte«. »Wil das nicht helffen«, »das« nicht und das ebenfalls anempfohlene »Dreynschlagen« »nach aller unbarmhertzigkeit auch nicht«, so »müssen wir sie, wie die tollen hunde aus jagen [... ]«29.

Katzniann aber, der durch die Fremdsprachen hindurch die Sprache des Anderen und sein Gesetz nicht abstreifen kann; Katzmann, dem, um mit Paul Celan zu sprechen, das »lebendige Nichts« ins Gemüt geschrieben wurde und der den Eigensinn, den eigenen Sinn dieses lebendigen Nichts noch gegen seinen Willen affirmiert, dieser Katzmann wurde in unserem Jahrhundert bis in die entlegendsten Winkel Europas verfolgt - und noch sein Tod sollte getötet werden.


Fußnoten

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  1. Brüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen, (Erstfassung 1819) München 1949/1988, S. 564: »Das eigensinnige Kind«.
  2. Dem Oskar Negt und Alexander Kluge ein Kapitel in Geschichte und Eigensinn ein Kapitel gewidmet haben, Frankfurt/Main 1981.
  3. Kinder- und Hausmärchen, gesammelt durch die Brüder Grimm. Zweite vermehrte und verbesserte Auflage, 3 Bände, Berlin 1819-1822, Bd. 1, S. VII-IX (vgl. Anm. 1, S. 30 f.).
  4. Vgl. Friedrich Kittler, Aufschreibesysteme 1800/1900, München 1985, S. 33.
  5. Ebd., S. 40.
  6. Ebd. S. 58.
  7. Ebd., S. 92.
  8. Vgl. Antn. 2, Bd. 3.
  9. Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 1, Spalte 1116, Zit. Friedrich Schiller, Wilhelm Tell: »... die bäume seien / gebannt, sagt er, und wer die schädige, / dem wachse seine hand heraus zum grabe.«
  10. S. 205 f. Schon in einem Meisterlied von Hans Sachs aus dem Jahre 1552 »reckt der tote Jüngling in Ingolstadt, der einst seine Mutter mißhandelt hatte, die Hand aus dem Grabe, bis jene auf den Rat der Doktoren und Geistlichen die Hand mit einer Rute blutig schlägt.« Anmerkungen zu den Kinder- u. Hausmärchen der Brüder Grimm, neu bearbeitet von Johannes Bolte und Georg Polivka, Hildesheim 1963, 2. Band, S. 550.
  11. Kittler, (Anm. 4), S. 35.
  12. Vgl. ebd., S. 17: » Es geht also darum, Durst und Begehren nicht offenzulassen wie Philologen oder Rhetoren, sondem so restlos zu stillen, daß sie erlöschen. Der Tod des Begehrens aber heißt Seele.«
  13. »Le Horsexe, voilà l'homme sur quoi I'­me spécula«. Jacques Lacan, Le séminaire, Livre XX, Encore, Paris 1975, S. 78.
  14. Doch stelle ich die Hypothese auf daß es sich um ein Mädchen handelt.
  15. Sigmund Freud, Gesammelte Werke, chronologisch geordnet, Band 6: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten (1905), London 1940, S. 123.
  16. Daniel Sibony, Lajuive. Une transmission d’inconscient, Paris 1983, S. 58 f.
  17. Wie Bernhard Siegert sie für Kafkas Verhältnis zur yiddischen und zur deutschen Sprache formulierte, in: »Kartographien der Zerstreuung. Jargon und die Schrift der jüdischen Tradierungsbewegung bei Kafka«, in: Wolf Kittler/Gerhard Neumann (Hrsg.), Franz Kafka: Schriftverkehr, Freiburg 1990, S. 232.
  18. Kittler, (Anm. 4), S. 40.
  19. Vgl. hierzu Nicolas Abraham/Maria Torok, L’écorce et le noyau, Paris 1987, S. 256.
  20. P. Aulagnier-Spairani, »Remarques sur la structure psychotique«, in: La Psychanalyse, No 8, 1964, S. 54 f.; zitiert in: A. de Waelhens, La Psychose. Essai d’interpértation analytique er existentiale, Louvain/Paris 1972, S. 48.
  21. Eine - hier unmögliche - Alternative erwähnen die Brüder Grimm selbst: In einer serbokroatischen Version des Glaubens, »daß dem, welcher seine Eltem schlägt, die Hand aus dem Grabe wachse«, zufolge, wird die »Hand aus dem Grabe [...] zurückgezogen, als die Mutter ihren Fluch zurücknimmt und die Hand küßt [...]«, Anmerkungen zu den Kinder- u. Hausmärchen der Brüder Grimm, (Anm. 10), S. 550 f.
  22. De Waelhens, (Anm. 20), S. 45; Hervorhebung von mir, E. W.
  23. Ebd.
  24. Ebd., S. 49. An dieser Stelle sei eine Frage wiederholt, die im Verlauf des Kolloquiums ohne Antwort blieb. In den Beiträgen mehrerer Teilnehmer wurde das »Ende« des Spiegelstadiums (Jacques Lacan) als fait accompli vorausgesetzt. Wie lauten die Argumente für dieses »Ende«?
  25. Abraham/Torok, (Anm 19), S. 256.
  26. Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main 1981, »Elemente des Antisemitismus«.
  27. Vgl. z. B. Exodus 32,9 in der Übersetzung von Martin Buber und Franz Rosenzweig: Die fünf Bücher der Weisung, Heidelberg 1954, S. 243.
  28. Vgl. z. B. Martin Luther, »Von den Juden und ihren Lügen«, in: D. Martin Luthers Werke, Kritische Gesamtausgabe, 53. Band, Weimar 1920, passirm, z. B. S. 427,435,483, usw.; G. W. F. Hegel, »Der Geist des Christentums und sein Schicksal«, in: Frühe Schriften, Werke 1, herausgegeben von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt 1986, passirm, z. B. S. 287. Siehe auch Pierre Legendre, »Die Juden interpretieren verrückt«, in: Psyche, 43. Jahrgang, Nr. 1, Stuttgart, Januar 1989.
  29. Luther, (Anm. 28), S. 541 f.

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