Museum der Wahnsinnigen Schönheit

Die Heidelberger Universitätspsychiatrie
als Ideologieproduzent der "Entartete Kunst"


Beim bösgläubigen Erwerb der Werke der unter dem Namen "Prinzohorn" bekannt gewordenen Sammlung wurde der Grundstein einer Ideologie der Pathologisierung der Kunst gelegt.
Sie zieht sich bis zum letzten Katalog der Universitätspsychiatrie hindurch:
siehe BILDER.


Hans Prinzhorn selber ist einfach in einem biologistisch/rassistischen und Nazi- ideologischen Kontext zu lokalisieren:
siehe


Als die Universitätspsychiatrie 1933 Prof. Carl Schneider zum Lehrstuhlinhaber und Ärztlichen Direktor der Psychiatrie machte, radikalisierte sich diese Pathologisierung zum Begriff "Entarte Kunst".
Prof. Carl Schneider, der sich später in der "Euthanasie" als Lehrmeister von Dr. Mengele mit Mord auf Bestellung hervorgetan hat, trug nicht nur durch die zur Verfügungstellung der Werke, die in seiner Psychiatrie gelagert wurden, zu dieser Radikalisierung bei, sondern pathologisierte mit seiner ideologischen "Meisterleistung" moderne Kunst an sich: Otto Dix und andere "kranke Geister" waren nach dem "Endsieg" zum Mord durch Vergasen vorgesehen.

Die Heidelberger Universitätspsychiatrie hat somit die ideologischen Grundlagen zur Vernichtung moderner Kunst an sich geschaffen. Dieses Kapitel der Universitätsgeschichte ist bisher schamvoll verschwiegen, da die Nazis "leider" den Krieg verloren haben, und der Heidelberger Universität die "Ehrung" aus dieser "Glanzleistung" verwehrt bleib.


Entartete Kunst und Irrekunst.1

Von
Prof. Carl Schneider
Leiter der Universitäts Psychiatrie Heidelberg

Quelle: Archiv für Psychiatrie - Band 110


Jeder gesund und klar Denkende wird nach einem Rundgang durch die Ausstellung "Entartete Kunst" eine tiefe Befriedigung und Dankbarkeit darüber empfinden, daß ein solcher "Spuk im deutschen Leben" nunmehr endgültig der Vergangenheit angehört.
Denn welcher echte Deutsche die Hallen der Kunst aufsucht, jeder empfindet das Bedürfnis, erhoben und befreit zugleich im Kunstwerk wiederzufinden das schlicht, wahrhaftig und edel in Wort, Bild, Plastik und Architektur nach seinem innersten Wegen erfaßte und dargestellte Bild seines Lebens. Nicht süßliche Verkitschung, sondern Heraushebung des Wesenhaften; nicht abstrakte Verflüchtigung, sondern natur- und lebensnahen Bildes; nicht die Schauer des Grauens, der Schuldbeladenheit und der Wollust, sondern die ehrfürchtige und andächtige Vertiefung in die Wunder des unbefangenen und kraftvollen Lebens wünschen wir. Und wir lehnen es ab, durch oberflächliche Idealisierung über die Schwierigkeiten des Lebens hinweggetäuscht oder durch Rausch und inhaltslose formale Darstellung vom wesentlichen Kern alles natürlichen Geschehens abgelenkt zu werden.

Wir danken es daher dem Künstler, wenn er unser Trachten, unser Schauen, unser Fühlen und unser Denken in seiner ganzen Fülle wahrhaftig und schön in sein Werk bändigte und dadurch die Spannungen auszugleichen und durch Vertiefung zu meistern vermochte, deren Bereinigung uns nicht gelang. Denn dann spüren wir, daß es ihm gegeben ist, aus der Unklarheit in die Helligkeit zu erheben und zugleich in seinem reinsten Wesen klarzustellen, was wir nur dunkel empfanden. Er wird unser Erzieher, indem er das Wort findet für das; was wir fühlten und nicht in Worte kleiden konnten; indem er uns lehrt, zu erblicken, was an Form, Farbe und Gestalt wir nur unscharf erfaßten; indem er uns in der Plastik die Bildung unseres Leibes und das Spiel der Glieder zu ruhiger Bewunderung zeigt und uns im gewaltigen Bauwerk den festlichen Raum schafft, in welchem unser Leben zu höherer und festerer Gemeinschaft aufsteigen darf.

Durch dieses sein Vermögen, auszudrücken, was in uns lebt; zu gestalten, was ungestaltet in uns wogt, durch die Gabe, im Kunstwerk uns die Gemeinschaft unseres innerlichsten Fühlens Wollens tiefer bewußt erleben zu lassen, und uns dadurch zu einer edleren Gemeinschaft zu einigen, wird der wahrhafte Künstler zu allen Zeiten ein wahrhaft führender Miterzieher seines Volkes.

Wie jedem Menschen gegenüber, der unser Leben klärt, erhebt und bereichert und schließlich auch durch die Darstellung des wesentlichen erleichtert, regt sich auch dem Künstler gegenüber in uns die Empfindung, daß seine Gabe einen natürlichen Vorrang, einen natürlichen Adel der Person begründet. Und diese Empfindung, die die Wurzel unserer Verehrung für den Künstler abgibt, ist um so beglückender, je reicher er seine Begabung zu entfalten vermag.
Schon dieses Gefühl der besonderen Stellung des Künstlers in der Natur regt zum Nachdenken an , woher der Künstler die Fähigkeiten und die Kräfte zum Schaffen nehme. Dieses Nachdenken über die Gründe der natürlichen Begabung des Künstlers wird noch gesteigert durch die schon früh gemachte Beobachtung, daß der Künstler sowohl im Augenblick der schöpferischen Entfaltung wie oft in seinem ganzen Leben mit Spannungen beladen sind ist, die der Durchschnittsmensch nicht kennt. Sie erzwingen oft genug vom Künstler eine Unterordnung unter seine Begabung, durch welche seine Lebensführung sich aus dem Rahmen des Gewöhnlichen erhebt. Dadurch drängt sich erst recht die Frage nach dem Wesen des künstlerischen Schaffens auf.
Bis etwa bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts standen sich als Lesungen solcher Fragen zwei Auffassungen gegenüber, durch welche man das Wesen des künstlerischen Schaffens zu begreifen versuchte.
Die eine sah im Mittelpunkt des Künstlerlebens die Spannungen, die entrückte Hingabe an das Werk, die Überwältigung durch die empfangene Idee, den alles überwindenden Schaffensrausch, zugleich aber auch die gleichsam prophetische Fähigkeit des Künstlers, das noch Ungestaltete zu bilden. Und wie es dieser Auffassung angemessen erschien, dem Seher überhaupt die Fähigkeit zuzusprechen, in unmittelbarem Verkehr mit der Gottheit durch Inspiration und Offenbarung die Geheimnisse der Zukunft zu erfahren, so erschien es ihr nur selbstverständlich, daß auch der Künstler dem rasenden und von der Gottheit im wahrsten Sinne des Wortes ergriffenen Seher gleich, sein Werk unmittelbar durch die Gottheit empfange. Im ekstatischen Wahnsinn der übernatürlichen Verbindung mit der Gottheit wurzelt hiernach die Künstlerschaft. Gott bedient sich des Künstlers als Werkzeug der Offenbarung, so wie er in der religiösen und einmaligen Offenbarung dem Propheten seinen Willen in wunderbar übernatürlicher Weise kundtut. Es ist seit uralter Zeit die Auffassung der südländischen Menschen verschiedener Rassen, die uns hier entgegentritt
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Sie hat zur Folge, daß der Künstler als das aus unbegreiflicher Vorsehung ergriffene Werkzeug erscheint, daß er im Grunde zu seiner Kunst und ihrer Reifung nichts tun kann, daß er das Werk empfängt, ohne an sich in seiner natürlichen Beschaffenheit und Artung ausgezeichnet zu sein und daß er losgelöst wird aus dem Bereich der übrigen Menschen, die mit der Zerknirschung und Unerlöstheit der Unbegnadeten staunend und schauernd das endlich entstandene Werk betrachten dürfen. Die Unfähigkeit des Künstlers die letzten gedanklichen Wurzeln schöpferischer Intuitionen sich und anderen bewußt zu machen, wurde immer (z. B. auch von Lombroso) als Beweis für diese Auffassung angeführt.

Die zweite Auffassung ist seit uralter Zeit im germanisch-nordischen Lebensraum heimisch und mit dem germanische-nordischen Menschen gewandert, wohin er kam. Auch ihr erscheint der Künstler als Werkzeug der Vorsehung. Aber doch in ganz anderer Weise. Die Vorsehung bedient sich im Künstler nicht durch einen übernatürlichen Vorgang, sondern durch die naturgegebenen Lebensgesetzlichkeiten, die dem menschlichen Leben überhaupt eigen sind, des Mittels, das nötig ist, um die Menschen zu höherer Bildung und Gestaltung ihres Lebens und ihrer selbst zu erziehen. Der Künstler empfing seine Gabe aus seinem Geschlecht, durch Vererbung, er ist der edler gebildete und seine Gabe ist die höhere oder höchste Vollendung eben dessen, was sind. Er empfing seine adelnde natürliche Gabe, aber nicht das Werk. Dies hat er in eigener Arbeit, in eiserner Selbsterziehung, in beharrlicher Reifung zu schaffen und fortzuentwickeln, damit es seiner erzieherischen Bestimmung immer besser gerecht werde. So wird seine Gabe zum natürlichen Gut, das ihm Verantwortung und Verpflichtung auferlegt, dem er nicht anders dient, als wir unseren Verantwortungen und Verpflichtungen, nur freilich auf einer höheren und daher schwieriger und mit nur größerem und rücksichtsloserem Selbsteinsatz zu erreichenden Ebene. Indem er so wie jeder Edlere sich über uns erhebt, bleibt er doch nach Lebensgesinnung und Einsatz mit uns verbunden, bleibt er uns wie jeder Erzieher und Führer verpflichtet, daher auch, gerade indem wir ihn verehren, uns innerlich nahe und verständlich
3.

Hier wird nicht geleugnet, daß die schöpferische Intuition in ihren letzten gedanklichen und seelischen Quellen mir selten bewußt gemacht werden kann. Aber diese Quellen wurden doch als das Ergebnis des eigenen Lebens empfunden und der Vorgang des schöpferisch intuitiven Zusammenschlusses aller Gedankenkeime zur künstlerischen Erfahrung oder Tat wird als natürlicher Lebensvorgang gedeutet, der nun nichts geheimnisvoller ist als die Gaben die man überhaupt empfing.

Ohne weiteres ist es klar, was jede der beiden Auffassungen, die wir hier natürlich nicht in allen geschichtlich je, aufgetretenen Spielarten verfolgen können, für die Erziehung und Ausbildung junger und werdender Künstler bedeutet. Und daher ist es nicht gleichgültig, welcher Auffassung ein Volk oder dessen Führerschicht sich zuneigt. Ebenso steht die Auffassung vom Wesen des künstlerischen Schaffensvorganges selbstverständlich mit der gesamten Lebens- und Weltanschauung eines Volkes und einer Rasse in engster Beziehung und hat daher zugleich als ein Anzeichen ihres innersten Wesens zu gelten.
So war es denn eine Erscheinung von kulturgeschichtlichem Anzeichenwert wie von kunstgeschichtlichen Folgewirkungen zugleich und ein Symptom der rassischen Verschiebungen in der kulturellen Führungsschicht Deutschlands, daß im Laufe des 19. Jahrhunderts neben die beiden geschilderten Auffassungen eine dritte trat, nach welcher künstlerischer Schaffensvorgang und Wahnsinn in engerer Verwandtschaft stehen soll. Diese neue Lehre und ihre Bedeutung für die Kunstentartung der Vergangenheit, zugleich aber auch ihre Gefahr, die sie - mit dem Schein wissenschaftlicher Begründung vertreten - für jede Zukunft der Kunst darstellt, bedarf einer ausdrücklichen Widerlegung.
Auch die südliche uralte Auffassung hatte Wahnsinn und Kunst in eine gewisse Nähe zueinander gerückt. Aber sie hatte doch entweder im Wahnsinn überhaupt oder wenigstens in der Künstlerischen und seherischen Ekstase das Walten der Gottheit zu spüren gemeint und verehrt. Nun aber wurde unter Wahnsinn die Geisteskrankheit verstanden, die, mochte man über ihre Herkunft denken, wie man wollte, und mochte man zumal im Anfang über manche Ursache mancher Geisteskrankheit im unklaren sein, die wir heute kennen, auf jeden Fall keine Hebung des Menschenwertes bedeutet und auch nicht mit Steigerung sondern mit Verminderung der Leistungsfähigkeit einhergeht. Wenn man also nun den künstlerischen Schaffensvorgang mit dem Vorgang des Wahnsinns verwandt, ja häufig genug gleichsetzte, so bedeutete das, daß man Kunst bereits in ihrer Bedeutung für die Erziehung und Auf- und Ausrichtung der Menschen völlig entwertet hatte.
Hinter dieser Entwertung stand aufklärerisch-rationalistische Ehrfurchtslosigkeit. Hinter ihr stand aber auch die Tatsache, daß die Kunst aus den großen völkischen Lebensbereichen und Lebensaufgaben, in denen sie vorher gestanden hatte, herausgelöst wurde; ihre Umformung zu einer Sache für Kenner; Erscheinungen zu deren liberalistische Willkür und marxistische Kulturfeindlichkeit die Menschen zu erziehen begannen. Hinter ihr stand aber auch die zerrissene, müde und unmännliche Dekadenz- und Untergangsstimmung, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts immer mehr steigerte und im 20. Jahrhundert in der (auf dem Boden der Klagesschen Geistesfeindlichkeit und Katastrophenprophezeihungen erwachsenen) Lehre von der engen Verwandtschaft des Weltgefühls unserer Zeit mit dem Weltgefühl der Schizophrenen ihre nicht mehr zu überbietende Formel fand.

Mit der Loslösung der Kunst aus den großen Lebenszusammenhängen des Volkes, mit der Entwicklung des Künstlers zum Museumsspezialisten, der allein von anderen Spezialisten begutachtet und beurteilt werden kann, war die eine, mit der veränderten Wertung des künstlerischen Schaffensvorgangs die andere Voraussetzung gegeben, auf der die These von der Verwandtschaft zwischen "Genie und Irrsinn" - um mich des Schlagwortes zu bedienen - sich erheben und erhalten und auf der sie in die weitere Kunstentwicklung eingreifen und der Kunstentartung Vorschub leisten konnte.

Bezeichnenderweise ist es ein Jude, Lombrose, der sie einigen wenig nachwirkenden Vorläufern wie Moreau und Hagen zuerst in einer Weise formuliert, welche für die weitere Bearbeitung maßgebend geworden ist.
Indem er unter Verfälschung der ekstatischen seherischen Entrückung der Denker des Altertums zur gewöhnlichen Geisteskrankheit in der materialistischen Auffassung des 19. Jahrhunderts sich auf die alten Schriftsteller beruft, stellt er zunächst den Satz, daß Genie und Irrsinn ursprünglich verwandt seien, als eine leider nicht zu umgehende, wenn auch paradoxe Wahrheit hin, um ihn dann durch eine Reihe von Behauptungen wahrscheinlich zu machen, deren wichtigste die folgenden sind:
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Der Künstler und das Genie überhaupt soll ebenso wie der Gesunde nur in zahllosen Abstufungen mit dem Irren verbunden sein (S. 254), da es im Reich der Natur überhaupt keine Stufen und Sprünge gebe. Nur dies mache es begreiflich, warum große Fortschritte so oft von Narren oder Halbnarren verwirklicht würden. Nur bei ihnen fände man die Ürsprünglichkeit wie bei den Genies und zugleich die nötige Überspanntheit (S. 254), man brauche nur die unerschütterliche fanatische Überzeugung des Wahnsinnigen mit der berechnenden Schlauheit des Genies zu vereinigen (S. 257), so habe man die Macht, die imstande sei, die stumpfen Massen aufzuwiegeln. Das Genie zeige eine Fülle krankhafter Züge, in seiner Leidenschaftlichkeit, in der Unbewußtheit der Ideenbildung (S. 7, 11) in der übermäßigen Sinnesempfindlichkeit (S. 18) in der auch dem Narren eigenen Neigung zur Unordnung (S. 32), in der auch dem Narren eigenen Originalität (S. 33).

Der Entwertung der Begabung geht bei Lombroso gleichgeschaltet eine für die damalige Zeit erstaunliche Hochbewertung der Irrenkunst. Die Irrendichtung wird mit der Dichtung überhaupt nach Wortwahl, Stoff und Rhythmus verglichen und überall auf angebliche Verwandtschaften verwiesen. In der Einsichtsfülle der Geisteskranken, in der gesteigerten Denkkraft, in der gesteigerten Rhythmik und den gesteigerten Gefühlstürmen lägen die Quellen der Irrenkunst und zugleich die Berührung mit dem genialen Schaffen (S. 131f., 180, 181, 183).
Wenn in den Stoffen der Irren der Symbolcharakter und das Obscöne starker hervortrete, so sei das nur wie auch andere weniger wesentliche
Züge ein Hinweis auf die Verwandtschaft des Irrenschaffens mit der Kunst der Steinzeit, der Kunst primitiver Völker (S. 210, 211, 218, 219) und zugleich ein Beweis dafür, daß der in allen Menschen schlummernde Trieb zur Kunstgestaltung durch die Zivilisation verschüttet sei. Im wesentlichen durch die gleichen Vorgänge werde er beim Genie und beim Irren enthemmt (S. 212).

An die Stelle der göttlichen Ergriffenheit soll nun der Einfluß der Gestirne für Geburt und Werkschaffen des Genies getreten sein. Auf jeden Fall sei eine eigentliche Gedankenarbeit und Arbeit an sich selbst nicht nötig. (S. 61) und die Herkunft des Genies ebenso wie die geistige Beschaffenheit ihrer Nachfahren und ihre eigene angeblich so häufige Erkrankung an geistigen Störungen beweise erst recht, in welch bedenkliche Nähe Schöpfertat des Genies und Wahnidee des Geisteskranken biologisch zu stellen seien.
Lombroso rühmt an einer Stelle seines Werkes die Bedeutung der Juden für die Entwicklung der revolutionären Ideen des 19. Jahrhunderts und in der Tat, man findet in der Formulierung Lombrosos genügend Verwandtschaften mit den Ideen des Klassenkampfes, der materialistischen Geschichts- und marxistischen Lebensauffassung, sowie der Feierung selbst des verbrecherischen Untermenschentums, um zu erkennen, daß er in die Schule von Marx gegangen ist ihm rassisch verwandt war.

Durch diese rassische und geistige Verwunzelung war zugleich die Richtung der Weiterentwicklung der Lombrososchen Behauptungen gewiesen, wie der hauptsächliche Personenkreis begrenzt, der zur Weiterbildung befähigt war oder sich berufen fühlte: Marxisten, Kommunisten, Juden, denen sich die Liberalisten aller Schattierungen in diesen Fragen der Kunst ebenso anschlossen wie in der Politik, alles nur ein Beispiel der ihnen allen bekannten aus der inneren Verwandtschaft von Liberalismus und Marxismus entspringenden Gleichentwicklung.
Zunächst fanden die Behauptungen Lombrosos noch wenig Widerhall im gesamtvölkischen Leben. Die gesunde Lebensauffassung der überwiegenden Mehrzahl des Volkes lehnte sie ab. Mit dem zunehmenden Verfall des völkischen Lebens aber und mit der zunehmenden kommunistischen Durchsetzung, der wachsenden Zerrissenheit und Schwäche der nicht marxistisch denkenden Volksteile gewann sie an Bedeutung und wurde schließlich zur überall verbreiteten Meinung. Teils wurde sie als prickelnde Sensation empfunden, teils gab sie oberflächlichem und platten Denken eine scheinbar plausible Erklärung, teils konnte man, gestützt auf ähnliche Lehren der Psychoanalyse und der Individualspsychologie den Vorrang des Künstlers bestreiten. Man konnte nicht Kraft und Begabung, sondern Schwäche und Krankheit, bestenfalls noch deren Überkompensation im Schaffen des Künstlers sehen und man gewann so ein bequemes Entschuldigungsmittel für die eigene Angekränkeltkeit und Nichtswürdigkeit. Dem ernst Denkenden aber schien mindestens die Frage als solche prüfenswert. Er meinte den Satz, daß die Natur keine Sprünge macht, in der Tat so verstehen zu dürfen, daß die künstlerische Schaffenskraft durch zahllose Übergänge mit der Norm verbunden ist. Und da ihm die Psychiatrie auf der anderen Seite ebensolche Übergänge zwischen Geistesgesundheit und Geisteskrankheit auf dem Gebiet der sog. abartigen Charaktere und Psychopathien bis in die feinsten Verästelungen des Charakters, des Denkens und der Lebensgesinnung lehrte, wurde er wenigstens vorbereitet für den politischen Angriff der nun auf die Kunst und auch mit Hilfe der Kunst auf das gesamtvölkische Leben versucht wurde
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Mit der Machtübernahme durch den Nationalsozialismus wurde allen diesen durcheinanderlaufenden und einander infolge der gleichartigen weltanschaulichen Untermauerung stützenden Behauptungen und Wirkungen zunächst einmal der Boden entzogen. Noch aber laufen sie teils offen teils in mancher Verkleidung um und entfalten durch ihre Scheinwissenschaftlichkeit eine Suggestivkraft auf den Ungeschulten, welche die restlose Gesundung der völkischen Gesamtauffassung auf dem Gebiete der Kunst und der Kunsterziehung zu hemmen geeignet ist und daher zerstört werden muß.
Im Grunde kamen nach Lombroso eigentlich keine wesentlich neuen Grundgedanken zu der von ihm entwickelten Auffassung hinzu. Dafür aber wurden zum Teil seine Behauptungen bis zum Äußersten übersteigert, so z. B. wenn der Jude Herzfelde bereits 1914 den Geisteskranken geradezu zum Vorbild des gesunden Künstlers machte. Außerdem wurde die Irrenkunst durch eine Dialektik, welche nicht sofort zu durchschauen war, zu allgemeiner Bedeutung für das künstlerische Schaffen erhoben, so z. B. wenn man auf der einen Seite ihr Studium als eine wesentliche Aufgabe der Wissenschaft hinstellte, auf der anderen Seite die der Irrenkunst oft so überaus ähnlichen Erzeugnisse der entarteten Kunst als bedeutende Meisterwerke abstempelte und nun durch den vergeblichen Nachweis einer vergeblichen höheren Menschlichkeit der in der Irrenkunst behandelten Stoffe der Künstler zur Erzeugung verwandter Darstellungen anzureizen versuchte. Soweit nun auch ernsthafte Forscher die Irrenkunst untersuchten, vermochten sie sich meist vom Blickwinkel der Zeit nicht zu lösen. Ohne daß sie es wollten, konnten daher ihre Darlegungen für den gleichen Zweck der Aufstachelung des Künstlers zur entarteten Produktion dienstbar gemacht werden. Zu gleicher Zeit aber konnte man durch die Erhöhung der Irrenkunst zur sog. Hochkunst den unbefangenen Blick des Volkes vernebeln, das gerade, wenn doch einmal ein bekannter Künstler aus einem unglückseligen Erbzusammenhang heraus oder infolge einer anderen Ursache geistig erkrankte, an dem persönlichen Schicksal dieses Künstlers einem begreiflichen Anteil nimmt.

Denn indem man mit beharrlicher Zielstrebigkeit das Leben und die, Familien der bedeutenden Künstler nach krankhaften Vorfällen durchsuchte, um die Behauptung, Genie, und Irrsinn entsprängen der gleichen Wurzel zu stutzen, stellte man die Wirkung des Genies auf den gesunden Durchschnittsmenschen im Grunde auf die gleiche Linie mit dem Schauder des Unbefangenen vor der Geisteskrankheit.
6 Die Bewunderung, Verehrung und Gefolgschaft des Volkes dem Genie gegenüber wird dann zu einer Neurose, die durch eine Art von hypnotischer Wirkung und Suggestion („Fascination") hervorgerufen wird. Von ihr hatte sich der freie und unabhängige Erdenbürger des liberalistischen Zeitalters selbstverständlich frei zu halten, weil er in ihr, geschult durch Psychoanalyse und moderne Psychotherapie, erkennen konnte, daß in der Wirkung des Genies nicht die höhere Geistigkeit angesprochen war, zu welcher ihn Marxismus und Liberalismus befreien wollten, sondern allein seine mehr oder weniger aus der Steinzeit überkommenen tierischen Abhängigkeits- und Unterwerfungsinstinkte oder im Jargon der Schulen gesprochen, seine masochistischen Triebregungen. Daß die Verehrung für das Genie aus dem Erlebnis kultureller, politischer oder sozialer Befreiung herauswächst, daß das Genie verehrt und berühmt wird, weil die Werte die es schuf, tatsächliche Objektive, psychologische und biologische Wirkungen hervorrufen, wird also geleugnet. Die ganze Wirkung des Genies ist ein "Spuk", bedingt durch die Fascination des braven Durchschnittsmenschen infolge des Geheimnisses im Abnormen!

Während man so die befreiende, veredelnde, bereichernde, besonders aber auch die erzieherisch anspannende Wirkung des begabten Künstlers aller Gattungen durch die Herabwürdigung der Wirkung des Genies verfälschte in die neurotisierende Ansteckung, die fragwürdige Geister aufeinander ausüben und zu gleicher Zeit die anständigen Bedürfnisse des gesunden Durchschnittsmenschen zur Gefolgschaft dem Edlen gegenüber durch ihre Gleichstellung, mit sexuellen Hörigkeitsvorgängen degenerierter Psychopathen vergiftete, schaffte man dem Unbegabten freie Bahn zur Gleichstellung mit dem Genie, zumal wenn er als Psychopath ein ursprüngliches Verständnis für alle solche Verklitterung der an sich biologisch begründeten Wertunterschiede zwischen den Menschen mitbrachte.

Bei näherer Prüfung ruht aber das ganze so weitschichtige und angeblich mit zwingender wissenschaftlicher Folgerichtigkeit aufgebaute Gedankengebäude auf einem recht schwanken Grunde. Denn selbst die umfassendste Zusammenstellung aller je geistig erkrankten Künstler und Genies hätte an sich, da es genügend zweifellos gesund gebliebene Künstler und Genies gibt, niemals zu der Behauptung berechtigt, daß Genie aus Wahnsinn hervorgehe, daß die Geisteskrankheit die künstlerische Begabung begründe, sondern höchstens zu der Behauptung, daß beide leider mit einer gewissen Häufigkeit aber gottlob immerhin selten im gleichen Menschen nebeneinander vorkämen. Das hätte natürlich dann dazu führen müssen, daß man, um den Künstler und das Genie vor diesem seine Leistungen zerstörenden Schicksal zu bewahren, die Ursachen ergründete, die das gelegentliche Nebeneinander von genialer Begabung und Veranlagung zu Geistesstörungen bedingten. Diese konnte abgesehen von den Fällen einer geistigen Erkrankung des Künstlers infolge irgendwelcher äußeren Ursachen nur in der Vererbung liegen und man hätte so, wie man die voneinander unabhängige Vererbung zahlloser körperlicher Eigenschaften erkannt hatte, auch die voneinander unabhängige Vererbungsmöglichkeit der verschiedensten geistigen Anlagen untersuchen müssen; mithin auch die unablässige Vererbbarkeit der Anlagen zum „Genie" und zum „Wahnsinn", wodurch - mochten die Erbgänge beider Anlagen noch so verwickelt sein - mindestens aber die grundsätzliche biologische Verschiedenheit von „Genie und Irrsinn" anerkannt und die ganze These zu Fall gebracht worden wäre. An der Einsicht in die biologische Selbständigkeit einzelner seelischer Anlagen wurde man freilich durch die überkommenen Begriffe von Geist und Seele durchweg verhindert. Folgerichtig hätte man weiter durch eine geeignete völkische Erbpflege gerade das Genie davor zu bewahren gehabt, daß seine hohen und edlen Anlagen durch das Walten der allgemeiner Vererbungsgesetze vielleicht mit kranken Anlagen durchsetzt und dadurch möglicherweise der Zerstörung preisgegeben würden. Statt, dessen führte aber die bald allgemein eingepflanzte Meinung, im Grunde sei irgend eine Art voll Verrücktheit die Wurzel aller höheren künstlerischen und schöpferischen Leistung zu der heute noch immer von vielen Leuten gelegten völlig abwegigen Befürchtung, die Ausmerzung krankhafter Anlagen auf dem Wege der Erbgesundheitsgesetzgebung könnte zugleich zur Ausmerzung der Hochbegabungen führen. Diese Meinung aber ist deswegen falsch, weil auch die Anlagen zu Begabungen aller Art ebenso wie alle anderen Anlagen unabhängig voneinander vererbt werden. Es ist daher durchaus möglich, die eine ungünstige aus dem Volke allmählich auszumerzen und die andere günstige, edlere, höhere, wertvollere durch geeignete Erbpflege dem Volke zu erhalten. Wo man dies für die geistigen Anlagen noch nicht einsehen kann oder will, liegt nur eine durch die überkommenen metaphysischen oder religiösen Weltanschauungen erzeugte irrige Auffassung vorn Aufbau des Seelenlebens zugrunde, mag sie nun idealistisch, monoistisch, materialistisch, positivistisch, dualistisch, skeptizistisch, kritizistisch oder sonst irgendwie eingekleidet sein oder meinetwegen auch irgend einer Wechselwirkungstheorie zwischen Geist und Körper entspringen.


Indem also alle natürlichen durch die Verschiedenheit der Anlagen und durch deren gegenseitige natürliche Unabhängigkeit hervorgerufenen Unterschiede zwischen dem gesunden Durchschnittsmenschen, dem hochbegabtem Künstler und dem minderbegabten oder dem durch unglückselige Erbkrankheit in seiner ursprünglichen Begabung zerstörtem Geisteskranken verwischt werden, wurde aber auch die Einsicht in die natürlichen, auch im künstlerischen Schaffensvorgang vorhandenen Unterschiede der jeweils zu vergleichenden seelischen Lebensvorgänge zerstört.


Wie abstrakt und begrifflich man bei deren Erforschung trotz aller Scheinexaktheit vorging, zeigt am deutlichsten Prinzhorns an Klages angelehnte Lehre von der beherrschenden Stellung des inneren Anschauungsbildes im künstlerischen Schaffensvorgang. Nach ihm haben auch die Bildwerke der Kranken psychologisch mit der Kunst das eine gemeinsam, daß sie Gestaltungsversuche sind. Lassen wir es beiseite, daß sich im Lauf der Darstellung schließlich die Gestaltungsversuche
durch die schon angedeutete Dialektik für Prinzhorn allmählich in geglückte Gestaltungen deshalb verwandeln, weil sie der inneren Regung, der sie entsprangen, jedesmal einen genügenden Ausdruck verleihen sollen. Wir hören dann, daß die Vollkommenheit eines Werkes und dessen Rang nur durch die rhythmische Belebtheit bestimmt werde, durch "höchste Lebendigkeit in vollendeter Gestaltung" und daß jeder andere Kunstbegriff sich unzulässiger kultureller "Hilfsgesichtspunkte" bediene, durch welche der eigentliche seelische Schaffensvorgang verschleiert und zugleich der metaphysische Sinn der Gestaltung verhüllt, der von Prinzhorn ganz im Sinne der Klagesschen Ausdrucksmetaphysik aufgefaßt wird. Kunst gehöre zu den Ausdruckstatsachen, in denen Seelisches unmittelbar erscheine. Dieses Ausdrucksbedürfnis sei zunächst überhaupt nicht durch Objekte bestimmt und ihm schlössen sich Spieltrieb und Schmucktrieb als gleich unbestimmte seelische Regungen an. Kommen dann noch Ordnungstendenz, Nachahmungstrieb und Symbolbedürfnis hinzu, so sei der Umkreis der seelischen Quellen der Kunst umrissen und angeblich an die Stelle der psychologisch unfaßbaren Phantasievorgänge klare psychologische Begriffe getreten. Diese Kunstquellen sollen in jedem Menschen walten, im Kind wie im Neger, im Erwachsenen wie im Künstler. Soweit aber die diesen Quellen entspringende Kunst auf Abbildung gehe, was durchaus nicht nötig sei, da sie sich auch in Symbolen ausdrucken könne, sei sie auf ein Anschauungsbild gerichtet. Es komme jedesmal nur darauf an, ein Anschauungsbild in räumlich-körperlicher Form umzusetzen und dabei sei der psychische Grundvorgang immer derselbe. Alle im Werk etwa auftretenden Unterschiede der Darstellung, der Auffassung und der Vorwürfe seien dem gegenüber zweiten Ranges, seien stilistisch formale Besonderheiten, auf die es im Grunde nicht ankomme. Denn sie beträfen nur die Einstellung des Gestaltenden zu seinem Gegenstand. Diese Einstellung aber könne sowohl auf Naturnähe wie auf Naturfern, ja auf völlige Abstraktheit gehen, ohne daß damit das eigentliche Wesen des künstlerischen Grundvorganges berührt würde
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Damit ist aber nun die Voraussetzung geschaffen dafür, daß alle tatsächlichen Unterschiede zwischen Kunstwerken und den entarteten kunstähnlichen Erzeugnissen und den krankhaften Ergebnissen krankhafter Seelenvorgänge verwischt werden. Denn die Kunst liegt dann allein in der Erzeugung innerer Anschauungsbilder beliebiger Art. Diese haben, wie sie auch beschaffen sein mögen als Ausdruckstatsachen einen schlechthin metaphysischen Eigenwert und wer sie in sich erzeugt, bewußt oder unbewußt, in Gesundheit oder Krankheit", er schafft Kunst, ob er nun kritzelt wie das Kind oder malt wie Rembrandt.


Kommen in solchen Darlegungen weithin dieselben Tendenzen zur Geltung, wie sie schon bei Lombroso und Lange-Eichbaum begegnen, so war doch in ihnen die Dialektik der Kunstzersetzung im Rahmen der durch die Fortschritte der Graphologie scheinbar wissenschaftlich gesicherten, weil auf ihr aufgebauten Klageschen kosmischcen Seelenphilosophie ein Stück weitergeführt und gleichzeitig jedem Nichtkönner die Tür zur Kunst geöffnet, weil jeder, auch der unkünstlerische Mensch, wenn er nur über einen genügenden Mangel an Selbstkritik verfügte, sich nun darauf berufen konnte, auch sein in Anschauungsbildern zur Entfaltung kommendes Ausdrucksbedürfnis habe metaphysische Berechtigung und entstamme dem Weltgefühl der Zeit. Außerdem konnte jeder dem etwaigen Einwand, warum er nicht ebenso male oder bilde wie Leibl oder wie Myron oder dichte wie Schiller, die Behauptung entgegensetzen, er habe beliebt die abstrakte formale Darstellung und den Symbolcharakter zu wählen. Soweit das aber der Künstler selbst nicht aussprach, taten es andere für ihn, Kunsthändler jeder politischen Prägung und Kunstkritiker, besonders aber die am Verfall interessierten Kommunisten und Juden unter ihnen.


Wer freilich als Psychiater Gelegenheit hat, die Anschauungsbilder der Kranken näher zu untersuchen, der erkennt, daß sie einen vollständig anderen Aufbau haben als die der Gesunden und daß auch beim Gesunden im Laufe der Entwicklung vom Kind zum Greis eine ständige biologisch begründete Umformung aller anschaulich-vorstelligen, bildhaft phantasierenden Seelenvorgänge beobachtet wird. Wer sich also überhaupt der Mühe unterzog, die Anschauungsbilder der Gesunden, Kranken und Künstler vergleichend zu studieren, der hätte zunächst einmal die Reifungsvorgänge der anschaulichen Phantasie beim Gesunden genau beschreiben müssen. Dies ist mit ausreichender wissenschaftlicher Genauigkeit überhaupt noch nicht geschehen. Wer sich aber einmal die Mühe dazu nimmt, der wird sofort bemerken, daß der geniale oder hochbegabte Mensch sich bereits in seiner Jugend auch in dieser Hinsicht anders verhält als der Durchschnitt, daß ein ähnlicher Unterschied - freilich in anderem inneren Aufbau der Seelenvorgänge - zwischen gereiftem Künstler und Durchschnittserwachsenen beobachtet wird und dasselbe für das Greisenalter gilt. Wiederum eine Reihe für sich bedeutet die Abwandlung der ursprünglich gesunden Phantasietätigkeit durch die Geisteskrankheit zu den mannigfaltigen Formen krankhafter Vorstellungstätigkeit bis zur völlig aus dem Bereich des Normalen tretenden Halluzination, welche eine biologische Sonderstellung schlechthin einnimmt.


Derselbe Gesichtspunkt gilt übrigens für die Beurteilung der Erzeugnisse des Gestaltungsdranges. Wer hier zu wissenschaftlicher Erkenntnis vor allem aber zu einer der tatsächlichen Biologie des Seelenlebcns entsprechenden Erkenntnis kommen wollte, der hätte, statt eine Linie von der Kinderkunst über die Negerkunst
8 zur Irrekunst und von ihr über die entartete Kunst zu dem zu ziehen was wir überhaupt Kunst nennen, miteinander vergleichen müssen die Kritzelei oder den Zeichenversuch des Durchschnittsmenschen oder die Jugendwerke der Dadaisten und Kubisten, mit den ersten oder Jugendwerken begabter oder genialen Künstler, die Klavierstammelei des Durchschnittskindes mit den Erstkompositionen Mozarts, das selbstgemachte Geburtstagsgedicht, das der spätere expressionistische, Dichterling als Kind einmal verfaßt hat mit der kindlichen Dichtung Goethes. Dasselbe wäre zu tun gewesen im Vergleich der künstlerischen Reifungsvorgänge. Dann wäre freilich der Vergleich des Durchschnitts und des zur entarteten Kunst veranlagten Scheinkünstlers mit dem wirklich begabtem oder dem Genie noch trüber geworden. Denn mit allen wahrhaft biologisch begründeten Anlagen und Eigenschaften teilt auch die künstlerische Befähigung dies eine entscheidende Merkmal, daß sie nach einem ihr eigentümlichen Gesetz - teilweise unter Mithilfe der Umwelt sich entwickelt, reift, sich innerhalb gewisser Grenzen umbildet und erst mit dem Tode völlig erstirbt. Wer eine solche Entwicklung nicht aufweisen kann, der hat das Merkmal nicht oder die Anlage dazu nur in bescheidenem Umfange. Und so ist es kein Wunder, daß der Geisteskranke, der Durchschnittsmensch, der Psychopath, der entartete Künstler solche künstlerische Reifungs- und Entwicklungsvorgänge vermissen lassen. Besonders der Geisteskranke ist, einer solchen biologischen Fortentwicklung nicht fähig, selbst wenn er irgend eine bescheidene oder bedeutende Anlage zur Kunst mitgebracht hätte. Denn die Krankheit biegt ja die ürsprungliche Entwicklung ab, sie setzt an die Stelle der naturgemäßen eben die krankhafte Fortentwicklung oder in zahlreichen Geistesstörungen das Ersterben aller biologischen Entwicklungsmöglichkeiten der ursprünglichen Anlagen.


Dadurch ist die Gleichsetzung auch der Gestaltungsvorgänge, ja selbst des bloßen Ausdrucksbedürfnisses bei Künstler und Durchschnitt unmöglich gemacht, selbst für Angehörige des gleichen Volkes oder der gleichen Rassen. Nur bei erbgleichen eineiigen Zwillingen würden
die biologischen Voraussetzungen derartiger Gleichläufigkeit gegeben sein. Angesichts verschiedener Rassen braucht man sich gegenüber der seit Lombroso immer beliebter gewordenen Einordnung der primitiven, besonders der Negerkunst in die Gesamtkunst der Menschheit außer der sinngemäßen Übertragung der Untersuchung der jeweiligen Reifungsvorgänge noch den Unterschied klarzumachen, der durch die Entwicklung der nordischen Kunst seit der Zeit der Germanen und der Griechen bis heute in ihrer ganzen Gestaltenfülle und Ausdruckskraft gegenüber der Negerkunst gegeben ist.


Es ist daher auch falsch, wenn uns immer wieder versichert wird, daß die Zivilisation die ursprünglichen Kunstantriebe, die bei allen Menschen vorhanden seien, verschüttet hätte, daß nur im Neurotiker, im Psychopathen, im Geisteskranken noch die ursprünglichen biologischen Kräfte sich entfalteten, um diese, aus der Zivilisation kommenden Hemmungen zu überwinden.


Dabei wird unterstellt (und oft genug ausdrücklich behauptet), daß so wie beim Neger auch bei jedem Deutschen eine (angeblich gleichartige) primitive Grundseelenschicht bestünde. Sie wird gewöhnlich als die archaisch-primitive Seelenschicht bezeichnet. Sie soll nach den Lehren zahlreicher (jüdischer!) Psychiater und Psychoanalytiker beim Geisteskranken, aber auch beim Nervösen und beim Psychopathen sich besonders leicht aussprechen; sie trete hier greifbar in Erscheinung; sie bilde aber sozusagen die eigentlich tragende Schicht des menschlichen Lebens überhaupt. In ihr herrscht angeblich, zumal für alle die an Freud glaubten, die symbolische Verkleidung aller Gedanken, Regungen, Gebilde des menschlichen Geistes und aller Wünsche, Hoffnungen und Bedürfnisse des menschlichen Herzens. Sie bestehen aus Faktoren gleichbedeutend für einander eintreten können, so daß eine Linie ein Haus, ein Haus die Welt, die Welt den Himmel, der Himmel das Geschlechtsleben, die Erde als Mutterschoß alles Lebens die weiblichen Zeugungsorgane bedeuten kann. Man gewinnt aus den geflissentlichen Beteuerungen der Autoren geradezu den Eindruck, als ob in dieser Schicht nicht nur die Wurzel der gesamten Kultur, sondern auch die Einheit des Menschengeschlechts, ja vielleicht sogar das wesenhaft den Menschen bestimmende Element zu suchen sei.


Niemals ist aber auch der Schatten eines Beweises dafür erbracht worden, daß die primitiven Instinktregungen eines gesunden Deutschen mit denen eines Kamerunnegers oder Indios biologisch identisch seien. In Gegenteil, wer, um diese Lehre von den archaisch primitiven Seelenschichten nachzuprüfen, es unternahm, die Urinstinkte und primitivsten Denk- und Wunschregungen gesunder und kranker Menschen des deutschen Volkes genauer psychologisch zu zergliedern, der stieß auf die unüberbrückbaren Verschiedenheiten im Seelenleben der nordischen Rassen. Selbst wo wir in dämmerhaften Gesamterlebnissen mehr oder weniger träumend oder lässig oder auch abergläubisch und furchtsam fühlen und denken, ist es uns unmöglich, die dem Juden, dem Neger oder dem Indio zuglänglichen Symbole und Komplexe zu erleben, zu denken oder zu vollziehen. Nicht dies also darf geleugnet werden, daß auch wir dämmerhafte Regionen unseres Seelenlebens kennen, sondern dies muß und darf bestritten werden, daß diese mit den dämmerhaften oder entwickelten Regionen des Seelenlebens der Juden, Neger und Indios übereinstimmen. Dasselbe gilt auch für die angebliche Übereinstimmung des kranken Fühlens und Denkens und den primitiven Denkgebilden einzelner Rassen und Völker. Die Geisteskrankheit zeigt ihre Besonderheit darin, daß sie die Neigung in dämmerhaften Regionen der Seele zu leben, vergrößert, mitunter diese Regionen zu den alleinigen Lebensbereichen macht. Aber diese dämmerhaften und verworrenen Seelenvorgänge sind weder denen der Gesunden gleich, noch werden durch die Krankheit die zwischen den Rassen auch in den Tiefen des Seelenslebens bestehenden biologischen Schranken niedergerissen. Drastisch gesprochen, der in dämmerhaften Wahngedanken dahinlebende geisteskranke Deutsche wird noch lange kein normaler in achaisch primitiven Symbolen denkender Neger und erst recht kein geisteskranker Neger, ja er sinkt nicht einmal bloß auf die Stufe der primitiven geistigen Schichten eines Negers zurück. Aber selbst der Nachweis wurde nicht versucht, wie sich der geisteskrank gewordene Neger zu seinem normalen archaisch-primitiven Denken verhält. Die ganze angebliche Beweisführung ist eben nichts anderes als ein Jonglieren mit spiritualisierten überbegrifflich abstrakt gewendeten, mit willkürlich gedeuteter und dazu noch schlecht beobachten psychologischen Begriffen.

Allerdings ist es vielen Krankheitsvorgängen eigen, daß sie die Lebensvorgänge und zumal die seelischen Lebensvorgänge auf primitivere Stufen überhaupt zurückführen. So denken und fühlen, so trachten und wollen alle Kranken und Psychopathen aller Grade und Schattierungen unklarer, verschwommener, unbeständiger als die Gesunden und erst recht als die Begabten. Und da sie meistens auch feiger, unselbständiger, unmännlicher, und instinktloser sind als die Gesunden und die Begabten, sind sie auch geneigter und geeigneter, die Unklarheiten, die Verschommenheiten, die primitiven Symbole und Deutungen anderer, selbst anderer Rassen zu übernehem. Es war daher ganz klar, daß sie in erster Linie ansprechen mußten, als ihnen die fremd- und primitivrassigen Symbole und die abstraktformalen Ornamentformen der Primitiven als Vorbilder ihrer Betätigung angeboten wurden.


Hier liegt der Schlüssel dafür, daß die entartete Kunst eben auch zugleich eine wahrhaft kranke Kunst werden mußte. Denn wie in allen solchen Fällen, so nahm auch allmählich hier der äußerste Flügel, d. h. also der Geisteskranke sozusagen die, Führung. Nach ihm richteten sich die übrigen mehr oder weniger Entarteten und besonders die kommunistischen Juden aus. Man unterschlug dabei die recht wesentlichen Unterschiede die noch zwischen dem absurdesten Produkt eines Genies und zwischen dem krankhaften Erzeugnis der Wahnideen eines Geisteskranken bestehen und stellte Beispiele beider als angebliche Beweise für die innere Einheitlichkeit und biologisch wie künstlerische Gleichwertigkeit alles Bildens bei Gesunden und Kranken nebeneinander. Es ist aber ein allgemein gültiges Gesetz, daß der Gesunde das Kranke niemals wirklichkeitstreu nachahmen kann. Selbst dann, ja gerade dann, wenn er es versucht, die Krankheit ganz genau nachzuahmen, so wird nur ihr unechtes Zerrbild daraus, weil der gesunde Lebensvorgang nicht einfach in den Kranken übergeführt werden kann. Das gilt für die künstlich erzeugte Wunde ebenso wie für die vorgetäuschte oder eingebildete oder vom Schauspieler oder vom Dichter dargestellte Geisteskrankheit. Und es hat dieses Gesetz auch seine Gültigkeit in der bildenden Kunst. Wenn der Maler nicht einfach ein irres Gebilde kopiert, wozu er sich wohl kaum hergeben würde - mir ist ein solcher Fall jedenfalls nicht bekennt - sondern wenn er versucht, aus eigener Phantasie ein der Irrenkunst ähnliches Gebilde herzustellen, so würde er die Merkmale der Übersteigerung einzelner Züge, der willkürlich verzerrten und willkürlich absurden Sinngebung, der willkürlichen Verzerrung in den inneren Beziehungen der einzelnen Teile des Gebildes zueinander nicht vermeiden können, man würde sehen, wie er dem in ihm ununterdrückbar sich regenden Drang zur harmonischen Gestaltung, zur kompositionsgerechten Gliederung der Einzelteile des Werkes auszuweichen versucht, d. h. genau dasselbe, was wir bei den Versuchen der Simulation der Geistesstörung oder bei gewissen Imitiationen eines Standpunkt nun aber die mit der entarteten und Irrekunst gewöhnlich verglichenen Werke normaler Künstler an, z. B. auch die Beispiele bei Prinzhorn, so zeigen sie nicht einmal diese Merkmale des Nachahmungsversuch des Pathologischen, sondern selbst die kühnste Phantasie des Genies, der bewußt das Abnorme bilden will (z. B. Monstrositäten, Darstellungen der Hölle und ihrer Ausgeburten und ähnliches) führt immer zur sinnvollen Zueinanderordnung, zur kompositorischen Einheit, d. h. zu Zügen, die dem Irrengebilde abgehen.


Wir brauchen uns nicht darum zu bemühen, inwieweit das für den Vergleich von Irrenkunst und Negerkunst gilt. Sondern mir erkennen gerade an solchen Merkmalen, daß umgekehrt, oder dem es gelang, sog. Kunsterkzeugnisse zu schaffen, die man von Irrenkunst kaum unterscheiden kann, selbst, wenn nicht geisteskrank sein, so doch als Psychopath dem Geisteskranken biologisch nachstehen muß. Man kann nur nachahmen, wozu man innerlich die biologischen Voraussetzungen mitbringt. Das hatten freilich alle die vergessen, die die entartete Kunst priesen. Wenn man sich das vor Augen gehalten hätte, hätte man wahrscheinlich manche (scheinbar kluge) dialektische Undeutlichkeit nicht begangen. Denn, nachdem der Nachweis von den psychologischen Theoretikern immer wieder erbracht wurde, man die Werke derjenigen Künstler, die wir als Erzeuger entarteter Kunst kennen, übergangslos und ohne Sprung in die Gestaltungsversuche Irrer eingliedern könne, dürfen wir gerade aus diesem Ergebnis den Schluß ziehen, daß die Erzeuger der entarteten Kunst eine innere Verwandtschaft zum Abnormen auch in ihrer Biologie zeigen. Dann aber ist ihre "Kunst" auch der Beweis für ihre pathologische Beschaffenheit als Menschen.


Man hatte diesen Schluß in den Kreisen der Freunde entarteter Kunst, im Grunde immer wieder befürchtet. Geflissentlich wurde daher versichert: wenn auch die Werke im Stil, im Stoff, in der angeblichen künstlerischen Absicht und in dem schöpferischen Vorgang, dem sie entsprängen, bei Geisteskranken und Dadaisten, Futuristen, Aktionskünstlern und wie die Gruppen hießen, einander glichen, so sei ein Rückschluß aus dem Werk auf die biologische Beschaffenheit des Künstlers selbst nicht möglich
9. Vielleicht sollte man annehmen, daß ja nur die archaischen Schichten in ihm zum Vorschein gekommen seien, daß der Künstler ja nur die höheren metaphysischen Weltgefühle Prinzhorns bestätigt habe. Man hat es (im Grunde ohne jeden Beweis), tatsächlich fertig gebracht, vor zahlreichen ernstdenkenden Menschen die wahre Sachlage dadurch zu verschleiern. Da man aber die künstlerische Handschrift ebenso wenig verstellen und verändern kann wie die gewöhnliche Handschrift, ist der, der entartete Kunst leistet, selbst entartet. Und wer es vermöchte, entartete Kunst, Gebilde der Irren und große Werke echter Künstler ebenso nachzuahmen, der würde gerade in dieser Wandlungs- und Verstellungsfähigkeit seine biologische und menschliche Fragwürdigkeit beweisen, da ihm die eigenständige biologisch unterlegte Entwicklungs- und Reifelinie abginge. So sind denn solche Nachahmer innerhalb der Kunst oft genug - selbst wenn sie sich gar nicht bis zur Nachahmung der Irrenkunst entwürdigten, zu bloßen Fälschern geworden, die schließlich ihre Mitmenschen betrogen. Es sind aber auch nach einem ähnlich unerbittlichen Gesetz die ausschließlichen Kopisten wegen ihrer Fähigkeit zur Angleichung auch niemals die großen Schöpfer. Man tut daher den Könnern der entarteten Kunst kaum Unrecht, wenn man sie in die Nachbarschaft der Kranken stellt, sie haben sich in ihren Werken nur allzu deutlich selbst dargestellt.


Folgerichtig führte das Zusammenwirken von entarteter Theorie des künstlerischen Schaffens und entarteter Praxis der Kunsterziehung und Kunstkritik zur allmählich immer stärkeren Anhäufung der krankhaften Elemente im Kunstleben, die nun in allen Schattierungen vom leicht Anbrüchigen bis zum verkrampften Neurotiker, von mehr oder weniger sozial zweifelhaften Psychopathen bis zum Schizophrenen mit ihrem Lärm den Markt der Kunst erfüllten.


Die erste Wirkung davon war die Verschiebung der Stoffe der künstlerischen Darstellung. Soweit überhaupt Stoffe behandelt wurden, die der Gesunde hätte auch wählen können, wurden sie verzerrt. Hier spielte sich dasselbe ab, wie überall wo krankhaft veranlagte Elemente die Arbeit des Gesunden übernehmen wollen, ohne sachgemäß geführt oder ärztlich behandelt zu werden: Ordnung verwandelt sich in Chaos, Edles wird zur gemeinen Sudelei. Dafür nur ein Beispiel: Dix stellte sexuelle Stoffe, wie es hieß, vor der Drecklinie des vorderen Schützengrabens dar, Mutterschaft und Geburt wurde zum ekelerregenden und anstößigen Vorgang, Gram zur grimassierenden Fratze, Ehrfurcht zur höllischen Angst, die Wunde des Kriegsopfers wurde im Plakatstil verhöhnt.


Der größere Teil der Stoffe aber wurde dem abwegigen eigenen Innenleben jener sog. Künstler entnommen. Ihre Sensationsgier weidete sich an der Bloßstellung des Geheimnisvollen ihrer Ausflucht zur abstrakten Kunst, die ja nicht wie echte Kunst die Darstellung des Stoffes mit dem Innenleben des Künstlers zu erfüllen vermag, sondern, weil das instinktisichere gesunde Innenleben fehlt, an die Stelle solcher Fülle die blutlose Leere abstradt erdachter Künstlelei setzen muß.


Ein Teil der Stoffe aber deckt sich so mit denen der Geisteskranken, daß man - wie die Ausstellung eindringlich lehrt - keinen Unterschied mehr findet.
Die zweite Wirkung der Anhäufung krankhafter Elemente im Kunstleben war die Masse krankhafter Selbsterzeugnisse.
Von jeher hatten Künstler und Dichter infolge ihrer hohen Gaben zur Beobachtung überhaupt sich selbst beobachtet und dabei manche seelische Vorgänge entdeckt oder beobachtet, die dem Durchschnitt entgehen, weil er sich eben so schlecht beobachtet wie seine Welt. Nun aber häuften sich die Bekundungen über visionäre Erlebnisse, über Gefühlsräusche, über dumpfe Drangzustände, über qualvolle Erschütterungen und über ängstliche Skrupel bei der Empfängnis der Werkidee wie bei der Ausführung der Werke. Die Anbrüchigen aber, die leider nicht so glücklich waren, zu derartigen "höheren Künstlererlebnissen" veranlagt zu sein, mühten sich in hilfloser Verkrampfung ab, etwas Ähnliches in sich zu erzeugen. Es ging hier so wie in vielen religiösen Sekten und Bekennergemeinden, einzelne können das krankhafte religiöse Erleben erzeugen, weil sie krank sind, die Anbrüchigen verkrampfen sich in Scheinekstasen, der Gesunde wendet sich angeekelt ab.

Außerdem kann der genaue Kenner der seelischen Vorgänge die visionären Erlebnisse Gesunder, wie etwa sog. eidetische Anschauungsbilder, zweites Gesicht, phantastische Gesichtserscheinungen u. a. von den ähnlichen Vorgängen bei Kranken unterscheiden. Wenn daher ein gesunder Künstler einmal in einer Art von „Fülle der Gesichte" vorüberziehende Phantasiebilder schaut, ohne daß dies allen Durchschnittsmenschen begegnet, so ist er darum ebensowenig krank wie die Träger des zweiten Gesichts im Lebensraum der fälischen Rasse. Denn die pathologische Vision, die pathologische phantastische Gesichtserscheinung läßt sich von der Vision des Normalen recht gut unterscheiden, während umgekehrt das genaue psychiatrische Studium der Selbsterzeugnisse entarteter Künstler meist die Verwandtschaft mit den Visionen der Kranken aufdeckt.


Dasselbe gilt für die Gefühlserlebnisse und für den sog. „metaphysischen Drang", der bei den Schizophrenen ebenso mächtig sein soll wie in den entarteten Künstlern. Sicher kommt es vor, daß ein Durchschnittsmensch erst in einer beginnenden Geisteskrankheit anfängt, über die Probleme der Welt nachzudenken. Das Erzeugnis seines krankhaften Denkens ist aber von Philosophie weit entfernt.

Nirgends freilich werden die Unterschiede zwischen Gesund und Krank so - man könnte fast sagen geflissentlich - übersehen, wie beim Rhythmus. Jetzt sollte aller Wirklichkeit zum Trotz die Sprache des Geisteskranken die eigentliche Befreiung zum Rhythmus in der Dichtkunst enthalten. Es wurde eine bloße Rhythmuskunst in der Dichtung verkündet, deren Wesen eine ähnliche Verdichtung und Verknappung des Ausdrucks sein sollte, wie sie bei manchen Geisteskranken beobachtet wird. Und es fanden sich Nervenärzte, die die innere Übereinstimmung der "Merzgedichte" von Schwitters mit den Erzeugnissen verwirrter Geisteskranken bescheinigten und gestützt auf solche "Erkenntnis" die Wurzel aller Dichtung aus einem auch dem Geisteskranken eigenen Überschwang des Gemütslebens ableiteten (Mette)
10.

So griffen auch hier Enwertung des Gesunden, Überwertung des Kranken, Produktion des Entarteten und scheinwissenschaftliche Verklitterung seelischer Vorgänge getriebeartig ineinander und wirkten verheerend auf das gesamte Kunstleben.


Denn die nächste Folge war, daß man den Wert der Arbeit an sich selbst für die Entwicklung des Künstlers entweder geflissentlich verneinte oder unüberlegt verkannte. Das erste taten die Kommunisten und Juden, das zweite die Bürger und viele Gelehrte. Von gewissen Kreisen aus wurde geradezu die Meinung verbreitet, daß der wahre Künstler weder arbeite, noch zu arbeiten brauche, um etwas Tüchtiges zu schaffen, und daß der ein Stümper sei, der, weil er Hochleistungen aus sich herausholen wollte, zielbewußt an sich arbeitete. Im arbeitgewohnten Volk aber verstand man nicht, wie etwas ohne Arbeit zustande kommen sollte und so diente das ganze Geschwätz nur der weiteren Entfremdung zwischen Kunst und Volk. Schließlich aber war es klar, daß auf diese Weise nun auch dem Arbeitsscheuen der Zugang zur Kunst geebnet war. Manche arbeitsscheuen Psychopathen haben ihn genützt und die entarteten Künstler schwelgten in einer Kunst, die im Gegensatz zum Verhalten des wahren Künstlers jeden beliebigen „Einfall" ohne jede weitere Durcharbeitung und ohne Überprüfung zum sog. "Kunstwerk" auswalzte.


Auch dies Merkmal teilte freilich die entartete Kunst mit der Geisteskrankheit, daß der Entartete und der Kranke den Zugang zu zielklarer Arbeit nicht von selbst findet. Die ganzen Lehren, von denen die Rede war, dienten dazu, dies als das zwangsläufige Ergebnis jener angeblichen Entfesselung der höheren geistigen Regungen durch die Krankheit darzutun, mit der offenbar wie im Paradies die Befreiung von der Last der Arbeit verbunden sein sollte.

Aber auch diese angebliche Zwangsläufigkeit der Entwicklung zur (arbeitsfernen) Einfallkunst des Irren gibt es in der Geisteskrankheit nicht. Wir hatten Gelegenheit, im Rahmen der Arbeitstherapie auch bei einer schizophrenen Künstlerin, die bereits krankhafte Erzeugnisse geliefert hatte, nachzuweisen, daß man bei einer geeigneten ärztlichen Versorgung und Führung dem geisteskranken Künstler trotz Fortbestehens der Krankheit ebenso ganz beachtliche Kunstleistungen abfordern kann, wie dem unkünstlerischen Durchschnittskranken ganz ordentliche Durchschnittsarbeit. Ich werde Ihnen das Ergebnis dieses Vorgangs nachher zeigen. Es wurde freilich nur dadurch erreicht, daß wir das Gegenteil von dem taten, was Lombroso, Prinzhorn. u. a. machten: Wir hoben die krankhaften Erzeugnisse der Künstler nicht auf, sondern wir zerstörten sie und wir leiteten die Kranke bei der Lösung ihrer selbstgewählten normalen Aufgabe.


Wenn etwas geeignet ist, den Schlußstrich unter den Rummel von der Irrenkunst zu setzen, so ist es dies Ergebnis irrenärztlicher Behandlung einer an sich unheilbaren Künstlerin. Die sog. Irrenkunst war eben nur Symptom einer Pflege und Behandlung, aber keine Enthüllung der tiefsten Schaffensgeheimnisse. Und wer nun gar ohne schizophren zu sein entartete Kunst geliefert hat, der kann aus diesem Behandlungsergebnis sehen, was ihm not tat: die durch Gesunde auf ihn ausgerichtete Führung zur wirklichen Arbeit.

In diesem Zusammenhang können wir keine biologisch begründete, den Anforderungen kritischer Psychologie genügende Lehre vom künstlerischen Schaffen geben. Aber die Einsicht in die Notwendigkeit der Arbeit zur Weiterentwicklung und Reifung empfangener Künstlergaben führt zu einer Reihe recht weittragender Schlußfolgerungen.
Wir erkannten schon, daß die biologischen Reifungsvorgänge der Kunstbegabung im Künstler als Beweis dafür gelten dürfen, daß seine Gabe nicht übernatürlichen, sondern natürlichen Ursprungs ist. Die Seelenvorgänge werden eben durch ihre Übbarkeit als Naturerscheinungen ebenso erwiesen, wie dies bei den durch Übung entfaltbaren Lebensvorgängen aller Organe des tierischen und menschlichen Organismus der Fall ist. Die Gesamtheit der seelischen Reifungs- und Übungsvorgänge stellen den entscheidenden Gegengrund gegen jede übernatürliche Inspirationstheorie des Kunstschaffens ebenso dar wie gegen das Schlagwort von Beziehungen zwischen Irrsinn und Genie.


Art und Ausmaß der Übungsfähigkeit aber hängen außer von Erziehung und Ausbildung vor allem von der jeweiligen naturgegebenen Art der seelischen Lebensvorgänge ab und können ebenso wie die biologischen Reifungsvorgänge zu dessen näherer Bestimmung dienen, da die Übungsverhältnisse für verschiedene Seelenvorgänge ganz verschiedene sind, selbst innerhalb desselben Menschen. Dabei zeigt sich sofort wieder der Unterschied zwischen Künstler, gesundem Durchschnitt und Geisteskranken. Dieser hat keine zielstrebige Übungsfähigkeit, der Gesunde hat sie in ganz anderen Gebieten als der Künstler.


Man pflegt einer solchen Auffassung des Seelenlebens als eines naturhaften Vorgangs für gewöhnlich den Vorwurf zu machen, daß damit eine Entwürdigung der seelischen Vorgänge verbunden sei. Aber sie wird durch derartige Vorwürfe nicht getroffen. Denn sie hat mit der materialistischen Seelenauffassung ebensowenig etwas zu tun, wie mit der intellektualistischen-spiritualistischen, die beide doch nur die teils rassisch, teils philosophisch geschichtlich bedingte Abwandlung der Auffassung sind, daß Geist und Seele oder Geist oder Seele als übernatürliche Wesen sich in das natürliche Gebilde des Leibes senken oder von Gott in ein Gefängnis gesenkt werden und daher als Fremdlinge im Leibe und in der Natur höchstens durch wunderbare Zugiffe Gottes ihre Kräfte frei entfalten können, im übrigen aber durch den Leib nur behindert, geschädigt, gezwungen oder gefälscht werden. Meinungen, die der schon erwähnten südlichen Auffassung von der Bedeutung der übernatürlichen Inspiration für das Schaffen des Künstlers ihren Nährboden geben, im südlichen Lebensraum wurzeln und aus seinen Rassen heraus immer wieder genährt werden, während sie für den Lebensraum der nordischen Rasse blosse Überfremdungserscheinungen darstellen.

An vier für die Kunstpflege und die Abwehr der entarteten Kunst wesentlichen Gedankengängen kann man die Bedeutung dieser Erwägungen erkennen:


1. Mit dem Ursprung des Geistes oder der Seele aus übernatürlichen Quellen muß zugleich auch dem Seelengeschehen eine bleibende Formung gegeben sein
11, durch welche, selbst wenn man wie z. B. Thomas v. Aquin den Leib von Gott auf die betreffende Seele zugeschnitten erschaffen denkt, natürliche Reifungsvorgänge und gar noch erblich bedingte, durch eigene Übung zu fördernde Reifungsvorgänge ausgeschlossen werden.
In unserer Auffassung von dem Seelenleben als dem Inbegriff natürlicher Lebensvorgänge aber wird deren Übung und deren Ausbildung durch Übung, d. h. aber durch Selbst- und Fremderziehung zur sittlichen Pflicht, weil erst durch sie die empfangenen Gaben zur höchsten Entfaltung gebracht werden. So wie die naturhafte Auffassung der Seelenvorgänge zur Forderung der übenden Erarbeitung aller Fähigkeiten führt, stellt sie die höchste sittliche Forderung, dies es gibt, die der selbsterarbeiteten Leistung in den Mittelpunkt. Ihr entspricht auf der anderen Seite jene höchste Bescheidenheit des Begabten und des Genies, welche dem Gefühle beider für die Schwere der Aufgabe entspringt, zu der die empfangene Gabe aufruft.
Kunst- heißt eben wie bei jeder anderen menschlichen Tätigkeit Vollendung des Könnens durch Arbeit im Kampf mit den gefühlten Mängeln der eigenen Person, und hierin liegt nicht minder ihr sittlicher Wert wie in ihren Darstellungen.

2. Zum Vermögen der Übung der noch nicht ganz vollendeten Fähigkeit zur vollendeten Leistung gehört freilich Einsicht und gesunder Instinkt. Daher gehören zur Künstlerschaft ebenso wie zur Gesundheit überhaupt die anlagemäßigen Voraussetzungen zu dieser Einsicht. Entscheidend für den Künstler ist eben nicht allein die Begabung zum Malen, Formen, Dichten, sondern das Gesamt seiner Anlagen. Auch dieser im Grunde selbstverständliche Satz war in der Kunstentartung der Systemzeit verlorengeganen, daß nur der treue, fleißige, disziplinierte, anständige, urteilsfähige, opferwillige, ehrliebende und ehrenhafte Mensch aus einer empfangenen Gabe des Könnens die echte Kunst entwickeln kann. Mit dem Anbrüchigen, dem Psychopathen und dem Geisteskranken teilten die entarteten Künstler in ganzen Umfang den Mangel an jenen grundlegenden Eigenschaften und Anlagen und bewiesen dadurch ihre Abartigkeit erst recht, von der biologischen Mangelhaftigkeit an bis zür echten geistigen Erkrankung.

3. Diese Voraussetzungen und sittlichen Folgerungen werden nicht aufgehoben durch die Tatsache der verschiedenen und voneinander jeweils unabhängigen Übbarkeit der auf den Einzelmenschen durch Vererbung überkommenen Seelenvorgänge, gleichviel, ob nun ein Mensch sie alle in höchster Vollendung (empfing) wie das Genie oder in höherer Vollendung der echte Künstler. Dem Anbrüchigen und dem Kranken freilich, der nicht Anlagen zu höherer Vollendung, sondern zu größerer oder gar völliger Mangelhaftigkeit empfing, legen wir solche Verpflichtungen nicht auf. Wir lieben aber gerade infolge seines Mangels das Recht, zu verhindern, daß sich seine Mängel in seinem eigenen Leben oder im Leben seiner Mitmenschen auswirken. Daher wird der Geisteskranke einer entsprechenden Betreuung zugeführt und daher rechtfertigt sich die Ausschaltung der ihm nahestehenden entarteten Künstler aus dem Leben des Volkes auch aus biologischen Gründen, die sich, wie immer, dort mit den Gründen der Sittlichkeit und der Zweckmäßigkeit decken, wo das Leben des einzelnen und der Gemeinschaft wahrhaft naturnah aufgefaßt wurde.
Die selbständige Übbarkeit der einzelnen seelischen Vorgänge, die hinter den menschlichen Leistungen und zugleich auch den künstlerischen Begabungen und Fähigkeiten stehen, beweist aber gleichfalls deren biologische Unabhängigkeit voneinander, eine Erkenntnis, zu der schon die Berücksichtigung der Vererbbarkeit künstlerischer Begabung geführt hatte und erlaubt deren nähere biologische Kennzeichnung gerade auch für die Zwecke der Erblehre.
Die Beobachtung der Reifungs- und Übungsvorgänge zumal in ihren Unterschieden bei Begabten, Durchschnittsmenschen und Kranken aller Art fahrt uns also zurück zu den notwendigen Grundlagen aller Gaben: zur Vererbung von den Vorfahren auf die Nachfahren.

Dies aber führt zu einem vierten und wichtigsten Gedanken: Wir wissen, daß künstlerische Begabungen im einzelnen einen verwickelten Aufbau aus oft sehr zahlreichen Einzelanlagen und Fähigkeiten zeigen, daß daher der Erbgang dieser Begabungen recht verwickelt ist, sowie daß das Zusammentreten aller Teilanlagen zur Hochbegabung selbst innerhalb derselben Sippen nicht in jeder Generation sich zu wiederholen braucht, ja oft nur unter besonders günstigen Umständen erfolgt.
Aber das wissen wir - und die genealogische Verfolgung der Stammbäume großer Deutscher lehrt es uns nachdrücklich, daß solche Anlagen der künstlerischen Begabung wie alle anderen Anlagen an sich ein ewiger Bestand sind, wenn nur für ihre Weitergabe durch genügende Fortpflanzung gesorgt wird.. Die Erbgesetze beim Menschen sind uns zwar infolge ihrer Verwicklung noch längst nicht voll bekannt. Aber das lehrt uns die wachsende Kenntnis der Sippentafeln unseres Vollkes mit steigender Sicherheit, gerade infolge ihrer Verwicklung die Gewähr dafür bieten, daß aus dem Zusammentritt aller gesunden und überlegenen Anteile sich die Künstlerschaft unseres Volkes immer wieder erneuert, auch dort, wo die Kinder des einzelnen Künstlers selbst oder seine Enkel sie nur geteilt oder verdeckt weitergeben.

Dies geschieht freilich nur unter einer Voraussetzung: nämlich der, daß die Anlagen zu edleren Begabungen und adeliger Artung, nicht durch Gegenauslese und Ausmerze aus dem Volk verschwinden. Und diese Gefahr ist dort eingetreten, wo die Künstler sich nicht ausreichend fortpflanzen oder infolge mangelnder Fürsorge der Regierung durch ihre Notlage an der Fortpflanzung verhindert werden.

In den Zeiten der Kunstentartung war die Gegenauslese des Kranken und die Ausmerze des gesunden echten Künstlertums tatsächlich verwirklicht. Denn damals fand nur der Kranke die ausreichenden Lebensbedingungen, der gesunde Künstler konnte verhungern und konnte dadurch natürlich die Voraussetzungen zur zahlreichen Kinderschar nicht finden.
Mit tödlichen Sicherheit hätte dieser Vorgang zur Vernichtung der edelsten Erbanlagen unseres Volkes auf dem Gebiet der Kunst geführt, hätte aus einem Volke, in welchem leider infolge früherer ungenügender Erbpflege immer wieder Künstler einmal einer Erbkrankheit verfielen, ein Volk mit lauter kranken Scheinkünstlern, mit krankhaften Fabrikanten entarteter Kunst gemacht, wenn nicht der Führer Einhalt geboten hätte. Ihm, aber auch all den gesunden wahren Künstlern, die in den Zeiten der Not die Kraft fanden, durch ihre Kinder ihre Anlagen zu erhalten, schulden wir daher den höchsten Dank.


Unser Volk bedarf der Teilnahme an der Kunst und der Erhaltung durch sie. Der nordische Mensch bedarf des Erlebnisses seiner höheren Bestimmung, seines vertieften Lebenssinnes zur Erhaltung seiner Art. Er erstickt in der Luft der Entartung. Gerade weil wir wissen, daß im Erbgang des organischen Lebens nicht jeder alle Anlagen und nicht jeder alle in höchster Vollendung mit auf den Weg bekommen kann, freuen wir uns, wenn wir dessen, was uns abgeht, durch das Werk des Begabteren teilhaftig werden. So ist allen Ständen und Schichten unseres Volkes der Genuß edler Kunst geradezu biologische Voraussetzung zur Lebenskraft, zur Lebensfreude und damit auch zur Bereicherung des Lebens unserer Familien.
Die Erhaltung eines gesunden Kunstlebens ist daher eine der Voraussetzungen zum Gesundbleiben unseres Volkes. Der Psychiater aber kann ihr dienen, indem er hilft die didaktischen Scheinbeweise zu zerstören, welche die Kunst der Entarteten und der Irren aus den gleichen biologischen Quellen herleiten wollten, wie die Kunst des gesunden Künstlers.


Fußnoten:


1. Ein von der Ausstellungsleitung der Ausstellung „Entartete Kunst" gewünschter, aber aus äußeren Gründen nicht gehaltener Vortrag.

2. Mit am frühesten formuliert bei Demokrit.

3. Was wir hier für die Auffassungen vom Wesen der Künstlerschaft als Unterschied der nordischen Rasse von den Rassen des südlichen Lebensraumes und der außereuropäischen Rassen dargelegt haben, spiegelt sich auch im künstlerischen schaffen derRassen selbst.

4. Kennzeichnend dafür ist schon einer der ersten Abschnitte des Lombrososchen Buches mit der Überschrift: Physiologie des Genies und seine Verwandtschaft mit dem Wahnsinn. Sie wird ohne nähere Analyse der beiden psychologischen und biologischen Tatbestände auf Grund einer oberflächlichen geschichtlichen Einleitung, die an sich schon eine petitio principii enthält, vorausgesetzt mit dem Satz: Es ist dies gewiß eine grausame und schmerzliche Paradoxe". Doch entbehre diese Paradoxe nicht der Begründung, denn - und nun kommt ein in seiner sachlichen Leichtfertigkeit geradezu unglaublicher Satz: "Viele tiefe Denker sind, gleichwie Geisteskranke, sonderbaren unterworfen und haben unmäßige theatralische Gebärden an sich". Beispiele von Lenau, Montesquieu, von Napoleon sollen dies beweisen. Nach Ausführungen über Ähnlichkeiten zwischen Geisteskrankheit und Genie in der Form der Ausscheidung von Phosphorsäure(!) heißt es dann: "Die großen Denker wie die Geisteskrankcn, haben meistens einen heißen Kopf und kalte Füße, bei ihnen strömt das Blut in bedeutender Menge zum Gehirn, sie haben Anlagen zu schmerzhaften akuten Gehirnleiden und sind stumpf gegen das Gefühl des Hungers und der Kälte". Hier wird also ohne nähere Prüfung der ursprünglich dem südlichen Lebensraum vertraute Satz von der unmittelbaren inspiratorischen Einwirkung der Gottheit auf den Dichter und Künstler verfälscht in eine leichtfertige und banale Gleichsetzung der physiologischen und biologischen Vorgänge im Organismus des Geisteskranken und des Genies.

5. Hierher gehört es auch, daß immer wieder der Satz vertreten wurde, den sich z. B. auch Prinzhorn zu eigen macht, das Weltgefühl unserer Zeit hat Verwandtschaft mit dem Weltgefühl der Schizophrenen, z. B.: „Betrachtet man die Äußerungsformen unserer Zeit aufmerksam, so findet man überall, in der bildenden Kunst wie in allen Zweigen der Literatur eine Reihe von Tendenzen, die nur bei einem echten Schizophrenen ihr Genüge finden würden. Man beachte wohl, wir sind weit davon entfernt, in diesen Äußerungsformen Zeichen von Geisteskrankheit aufweisen zu wollen. Sondern wir fühlen überall eine triebhafte Neigung zu Nuancen, die uns bei Schizophrenen geläufig sind. Daraus erklärt sich die Verwandtschaft der Produktion, daraus die Anziehungskraft unserer Bildwerke (d. h. die Bildwerke der Geisteskranken). Und nicht minder allgemein verbreitet ist die Sucht nach unmittelbarem intuitiven Erleben mit mystischer Selbstvergottung, der metaphysische Drang, von dem echten Philosophischen bis zum sektiererischen und theosophischen, in dem magische Mächte wieder eine Rolle spielen. Ja, wir sind versucht, unsere Formulierung für die Gesamthaltung der Schizophrenen Gestaltung hier heranzuziehen und in der ganzen Zeit etwas von dem ambivalenten Verweilen auf dem Spannungszustand vor Entscheidungen zu finden. Die Tendenzen aber, die sich in dieser Hinsicht zu schizophrenem Weltgefühl zeigen, sind in der Hauptsache die gleichen, die vor zwei Dezennien in den Ausdrucksformen und dem Weltgefühl des Kindes und des Primitiven, Erlösung zu suchen begannen von dem wuchernden Rationalismus der letzten Generationen, in dem nicht die Schlechtesten zu ersticken meinen". Eine Kritik solcher Sätze ist geradezu unmöglich. Wer die Verstiegenheit solcher Formulierungen gegenübergestellt dem gesunden Lebensgefühl des gesunden Arbeitertums unseres deutschen Volkes, dem entringt sich nur ein müdes Lächeln.

6. Beispielhaft für die wissenschaftliche Durchführung dieser Gedanken sind die Schriften von Lange-Eichbaum. Für ihn ist der Zauber, den das Genie auf den Durchschnittsmenschen ausübt, weiter nichts als eine Faszination des Gesunden durch alles psychisch Abnorme. Durch die Abnormität fällt auch die Leistung mehr auf und durch die Vereinigung von Abnormität und Leistung hat das Genie doppelte Aussicht aufzufallen schon durch einfache Addition. Bei der Durchdringung von gesunden und bionegativen Eigenschaften entständen gleichsam neue chemische Verbindungen, die über die einfache Situation hinaus günstige Konstellationen ergeben, die ganz besonders geeignet sind auf mancherlei Weise aufzufallen. z. B. kann die gesunde Hochbegabung durch krankhafte Affektivität in Hinsicht auf bestimmte Kulturziele in ihrer Leistungsfähigkeit noch gesteigert werden. Hier wird also die innere Bindung des Genies an die Aufgabe, vor die es sich gestellt sieht, ohne nähere Prüfung der biologischem Eigenart der Gemütserscheinung gleichgestellt mit den krankhaften Gemütsabwegungen Abnormer. Außerdem aber komme es durch den "pathologischen Stachel" bei der Hochbegabung überhaupt häufiger zu Werken und Leistungen als beim zufriedenen Gesunden, und zwar zu Werken, die durch ihre „Unmittelbarkeit und Ungekünsteltheit" viel eher aus einem Guß wirken und dadurch in ihren Bann zwingen. „Daher fällt beim Geniewerden (Ausdruck von Lange-Eichbaum) dem Irrsinn folgende Rolle zu: Das Seelisch-abnorme fällt eher ans dem Rahmen heraus, es weckt mehr Eindruck, es haftet länger im Gedächtnis, es leistet leichter das, wonach die Menschheit verlangt (im Original gesperrt). Als Persönlichkeitskomplexe wirkt es rätselhafter, geheimnisvoller und wird deshalb (von mir Schrägdruck) eher zum Gegenstand der Verehrung. Sein Schicksal gestaltet sich biologisch oder soziologisch verursacht, öfter tragisch . . . . das So-ganz-andere, das mirum-tremendum der verkappten fremd-seelischen Züge und ihrer Schicksalsfolgen erweckt den Eindruck des wahrhaft Metaphysischen, Dämonischen, Übermenschlich-Numinosen." Daher werden zum Genie ganz verschiedene Hochbegabungen erhoben. "Vorbedingung des Genieruhms ist in jedem Falle erst einmal der gewöhnliche Ruhm bei den vielen". Es ist merkwürdig, daß Lange-Eichbaum sich gar nicht klar macht, wodurch nun eigentlich dieser gewöhnliche Ruhm bei den vielen entsteht. Die biologische, soziologische Wirkung des Genies, seine veredelnde, erziehende, fördernde d. h. also im Grunde genommen seine eigentliche schöpferische Wirkung wird also verzerrt dadurch, daß man sie gleichstellt der Wirkung des Geisteskranken und Abnormen auf den Gesunden. Eine unmittelbare Prüfung, ob das Außergewöhnliche des Genies wirklich pathophysiologisch und pathopsychologisch der Geisteskrankheit gleichsteht, findet nicht statt. Es wird viel mehr allgemein gefolgert, weil ein Teil der Genies (nach Lange-Eichbaum 12%, zum Teil auf Grund von Untersuchungen, die vielfach von Juden [Herzberg] erstellt wurden) bionegative Züge tragen. Daher heißt es schließlich: Fast überall siege der begabte, manchmal auch der unbegabte Irrsinn über das gesunde Talent. Das Psychopathologische sei ein ausgezeichneter Schrittmacher für die Begabung.

7. Ich gebe nur die wichtigsten Gedankengänge Prinzhorns, aus denen die Richtigkeit der oben gegebenen Darstellung hervorgeht. „Diese Bildwerke (nämlich der Geisteskranken) sind Gestaltungsversuche, das haben sie psychologisch mit der Kunst gemein". Ebenso müsse man in erster Linie prüfen, worin die Ähnlichkeit zwischen „Kunst der Primitiven", „Kinderkunst" und „Irrenkunst" läge, insbesondere was dieser Ähnlichkeit psychologischc zugrunde liegt. Weder der Gegensatz krank-gesund noch der Gegensatz Kunst-Nichtkunst sei anders als dialektisch eindeutig. Man fände nur polare Gegensätze mit zahllosen Übergängen, die man eindeutig benennen könne, aber nur in Anlehnung an eine jetzt und hier herrschende Kulturkonvention. Deshalb sei es ratsam, den psychologisch möglichst zentral gelegenen Begriff der Gestaltung zum Orientierungspunkt zu nehmen. Gewiß sei das Problem zumal seit Lombroso und in Pathographien höchst verwickelt und im allgemeinen seien die Laien empfindlich gegen die Meinung des Psychiaters. Aber es müsse doch ein tief gemeinsames in all diesen Formen des Wahnsinns, nämlich der Ekstase, der dichterischen Intuition und dem Irrsinn stecken. Die Frage sei, ob denn wirklich bei stichhaltiger psychologischer Rückführung auf das Wesentliche jene Ausnahmezustände irgendwie verwandt seien, nämlich der künstlerische Inspirationsvorgang einerseits und andererseits das Weltgefühl des Geisteskranken. Der Begriff der Gestaltung stünde letzten Endes nicht aus einem psychologischen, sondern metaphysischen Grunde im Mittelpunkt der Betrachtung. Das Leben sei überhaupt als eine Hierarchie von Gestaltungsvorgängen aufzufassen und nur auf Grund solcher Auffassungen könne man zu stichhaltigen Wertungen gelangen. Indem man die Wurzeln des Gestaltungstriebes beim Menchen aufsuche, erkenne man in dem Ausdrucksbedürfnis das Zentrum der Gestaltungsimpulse, die aus dem ganzen Umkreise des Seelischen genährt werden. Von diesem Mittelpunkt aus würden die Gestaltungstendenzen entwickelt, deren mannigfache Mischung die Art des entstehenden Bildwerkes bestimmt. „Entscheidend bleibt aber die Grundlage, daß alles Gestaltete Ausdrucksbewegungen des Gestalters verkörpert, die als solche unmittelbar, ohne Zwischenschaltung eines Zweckes oder sonst einer rationalen Instanz erfaßbar sind. Hier wird bereits abstrahiert von allen unmittelbaren bilogischcen Unterschieden, die zwischen dem seelischen Vorgang des geisteskranken und dem seelischen Vorgang im gesunden Künstler bestehen können. Es wird aber außerdem von vornherein jede Bindung an Kunstideale irgendwelcher Art als Zwischenschaltung eines Zwecks aufgefaßt aund aus der Untersuchung eleminiert. Daher kann nun auch Prinzhorn die Vollkommenheit eines Werkes nicht anders ausdrücken als mit dem Begriff „höchste Lebendigkeit in vollendeter Gestaltung". Jede ander Wertung bediene sich weitverzweigter kultureller Hilfsgesichtspunkte. Dadurch sei der Begriff erst völlig farblos geworden und für grundsätzliche Diskussionen wegen seiner affektiv überbetonten Vieldeutigkeit kaum mehr verwendbar. Die tatsächliche Verfeinerung der Kunstwerke und das auch naturwissenschaftlich vorhandene Problem die biologischen Gründe dieser Veschiedenheiten aufzuzeigen, wird hier also beiseite geschoben zugunsten eines abstrakten Begriffes der Kunst, der nun von Prinzorn nur noch im wesentlichen im metaphysischen Sinn der Gestaltung überhaupt gesucht wird, der im Zusammenhang des kulturellen Lebens durch äußere Zwecksetzung zumeist verhüllt wird. Damit ist der Boden vorbereitet für den Angelpunkt des Prinzhornschen Werkes, der in folgenden Sätzen liegt: „Wir schließen also zusammen und stellen im Gegensatz zu der Sphäre der meßbaren Tatsachen das Reich der Ausdruckstatsachen, in dem Seelisches unmittelbar erscheint und ohne Zwischenschaltung eines intellektuellen Apparates ebenso enmittelbar erfaßt wird. Und alle Ausdrucksbewegungen sind als solche keinem anderen Zweck wesenhaft unterworfen als dem einen: Seelisches zu verkörpern und damit die Brücke zu schlagen vom Ich zum Du. Daß dies mit Freiheit und Vollkommenheit geschehe, macht offenbar ihren Eigenwert aus. Dazu gehört, daß die Bewegung tatsächlich erfüllt sei mit dem Seelischen, dessen Ausdruck sie ist, und ferner, daß sie bestimmt, womöglich eindeutig gestaltet sei. Die Tendenz aller bewußten Ausdrucksgestaltung: zur Vollendung in der Form zu gelangen, begreift diese beiden Komponenten in sich. Wir finden die Ansätze dazu schön unter ganz einfachen Umständen: beim Kinde, das im Verlauf seines Spieles einen lustigen Tanz erfindet oder eine Kritzelei auf der Tafel entwirft, die dem intimen Kenner sehr wohl nach ihrem Ausdruckswert deutbar ist; beim Primitiven, der in seiner Tanzmaske sein von magischen und dämonischen Vorstellungen erfülltes Weltgefühl zum Ausdruck bringt und ähnlich bei zahllosen Vorgängen, in denen Seelisches Gestalt gewinnt. Wollen wir uns nun nicht darauf beschränken, die sichtbaren Niederschläge solcher Ausdrucksvorgänge deskriptiv zur Kenntnis zu nehmen, sondern psychologisch in diese Vorgänge selbst eindringen, so müssen wir den Antrieb, um nicht zu sagen die Kraft, benennen, die darin erscheint. Wir sprechen also von einer Tendenz, einem Drang, einem Bedürfnis zum Ausdruck des Seelischen sind meinen damit jene triebhaften Lebensvorgänge, die an sich keinem außerhalb ihrer selbst liegenden Zweck unterworfen, sondern sich selbst genug nur auf Gestaltung ihrer selbst gerichtet sind. Eine theoretische Begründung dieser Leitung kann hier auch im Umriß nicht versucht werden, weshalb wir vorziehen, diese Sätze einfach als zentralen Beziehungspunkt aller Untersuchungen dieses Buches hinzustellen". Es ist in der Tat so, daß Prinzhorn eine wissenschaftliche Begründung für diese Sätze nicht geben konnte. Sie enthält eine reine Abstraktion formaler Gedankengänge, die aber nun den Satz hervorruft: "Es gibt nicht Kunstwerke wie es Steinbeile oder Pfeilspitzen gibt; die sind als zweckbestimmte Werkzeuge entweder vorhanden oder nicht und alles weitere ist eine Frage der Technik. Der Gestaltungsvorgang, der in einem Kunstwerk von heute sich verwirklicht, wird gespeist aus sehr verschiedenartigen seelischen Bezirken. Und seine Quellen brauchen nicht alle zusammengeflossen zu sein, ehe sie den Namen Gestaltung verdienen. Da es Kunstwerke, an denen ein Wertmaßstab angelegt werden könnte, für Prinzhorn nicht gibt, ist Kunst charakterisiert durch Gestaltungsvorgänge, die im wesentlichen fließen aus Ausdrucksbedürfnis, Spieltrieb, Schmucktrieb, Ordnungstendenz, Nachahmungstrieb (dieser als Wurzel der Abbildungsdarstellung!) und Symbolbedürfnis, worunter Prinzhorn in einer vagen Fassung alles das versteht, was das primitive Denken von dem auf rationale wissenschaftliche Erkenntnis gerichteten Denken unterscheidet. Keine dieser angeblichen psychologischen Quellen wird nun von Prinzhorn biologisch gekennzeichnet. Es bleiben formale abstrakte Begriffe, die mit einigen Beispielen illustriert werden. Und hierzu liegt der Grund, weshalb dann Prinzhorn mit einem Schein der Berechtigung die Gleichartigkeit der Gestaltungsvorgänge bei den verschiedensten biologisch zweifellos nicht gleichzusetzenden Menschen und Rassen bewiesen zu haben glaubt. Kennzeichnend sind hier insbesondere auch die Ausführungen über den Spieltrieb, wobei der merkwürdige Satz geprägt wird, daß bestimmte Techniken, z. B. der Graphik, des Aquarells, ja auch der Plastik einfach nichts anderes seien als eine Art improvisierten Spiels vergleichbar der Kritzelei des Kindes. Ein anderer Beweisgang richtet sich ganz im Rahmen der gegen jede objektive Bewertung von Kunstwerken gerichteten Beweisführung Prinzhorns gegen die sog. „Abbildungstendenz". Abbildungstendenz besage nichts über Wirklichkeit oder Unwirklichkeit dargestellter Gegenstände. Diese seien als Anschauungsbilder gegeben. Und für ein Anschauungsbild, das zur äußeren Gestaltung dränge, sei es unwesentlich, ob ihm etwas real Existentes, Sichtbares zugrunde liege oder ob sein Gegenstand nur vorgestellt werden kann. Die Abbildungstendenz gehe nur darauf, daß ein Anschauungsbild aus der Darstellung von dem Beschauer möglichst genau so aufgefaßt werden kann, wie es dem Bildner vorschwebe. Ob ein Gegenstand realistisch oder abstrakt dargestellt wird, das ist vom Standpunkt der Abbildetendenz völlig sekundär. Diese ist ein rein psychologischen Begriff. Und der primäre psychologische Tatbestand heiße jedesmal: Gerichtetsein auf ein Anschauungsbild. Vom Ausdruckbedürfnis aus sei die Abbildung realer Gegenstände sicher nicht erforderlich. Damit ist dann die scheinwissenschaftliche Voraussetzung geschaffen, darf jede beliebige Gestaltung und sei sie noch so unfähig, symbolisch abstruse Kunst heißen könne, nur deswegen weil sie auf ein Anschauungsbild gerichtet ist. Dementsprechend wird darin auch für Prinzhorn das Symbolbedürfnis eine wesentliche Voraussetzung der Kunst. Es dränge die reine Abbildung zurück, locke Ordnungssysteme hervor, führe zur Konvention in der Formensprache, zur rhythmischen Feierlichkeit und Vorherrschen abstrakter geometrischer Elemente und weise vom individuellen Bildwerk fort auf verpflichtende Gesetzmäßigkeiten. Dem entspricht dann die Folgerung: "Die Chimäre von der organischen Richtigkeit und Vollständigkeit vor allem des menschlichen Körperabbildes hat trotz Lionardos und Dürers Ahnenschaft viel Unheil angerichtet, da sie den pedantischen Neigungen des Bildungsrationalismus vor allem entgegenkommt". Ein solcher Satz enthält die scheinwissenschaftliche Begründung dafür, daß man von der „Chimäre von der organischen Richtigkeit und Vollständigkeit vor allem des menschlichen Körperabbildes" jederzeit abweichen kann. Das Ergebnis dieser Abweichung sieht man an den verzerrten Figuren, an den Bildern und Plastiken der Ausstellung Entartete Kunst. Prinzhorn ist es gleichgültig, ob er menschliche Körper organisch richtig oder verzerrt dargestellt hat, er hält fest, "daß große Gebiete der Gestaltung frei davon sind (von der organischen Richtigkeit) und den Akzent gegenständlicher Darstellung auf sehr verschiedene Komponenten verlegen, ohne dadurch einem begründeten Tadel zu verfallen. Jedesmal gilt es, dies Anschauungsbild auf seine bestimmenden Faktoren zurückzuführen". Dies heißt also, weil es ein Ornament gibt, darf man die Darstellung des menschlichen Körpers in verzerrter Form vornehmen und derartige verzerrte Gebilde haben den Anspruch auf den Namen Kunstwerk, weil das Anschauungsbild in der akzentuierten Komponente gipfelt und weil "der Grad der rhythmischen Belebtheit eines Werkes seinen Rang als eines Gestalteten" bestimmt. Die Folgen für die Gleichsetzung zwischen Irrenkunst und hoher Kunst des gesunden Künstlers enthalten dann folgende Sätze: "Das Durchblättern unserer Bilder (der Geisteskranken) beweist eindringlich genug, daß in dem Seelenleben dieser Kranken die religiöse und die erotische Schäre offenbar in ganz anderem Maße vorherrschen als man dies bei Gesunden bemerken kann". Dies hänge nicht nur mit einem Wegfall von Hemmungen zusammen, sondern mit einem ausgesprochen metaphysischen Drang, der durch die Umweltsentwertung und die Aufhebung des Unterschiedes Wirklich-Unwirklich schon gleichsam vorbereitet sei. „Beunruhigend ist an dem Problem jedoch die Frage, ob denn der so fundierte metaphysische Drang des Schizophrenen dem des Gesunden wesensgleich sei oder ob dieser auf anderen Voraussetzungen aufbaue. Man sieht, wir geraten immer wieder auf das Zielproblem: Das Verhältnis der Gestaltungsgrundlagen beim Gesunden und beim Geisteskranken. Wir sehen die Lösung in der gleichen Richtung wie bei allen derartigen Problemen: die Grundtendenz ist ihrem Wesen nach in beiden Fällen gleich (von mir Schrägdruck). Die vergebliche Beweisführung Prinzhorns erhält dann ihre Krönung dadurch, daß an dem Kunstschaffen der Geisteskranken das autonome Arbeiten des Gestaltungstriebes angeblich für alles Kunstschaffen bewiesen sein soll. "Aus diesen Menschen bricht ohne nachweisbare äußere Anregung und ohne Führung der Gestaltungsvorgang zutage, triebhaft, zweckfrei, sie wissen nicht, was sie tun. Was man immer Einschränkendes über den Wert dieser Erkenntnisquelle sagen möge, gewiß ist, daß wir nirgends wie hier jene Komponenten des Gestaltungsvorganges, die unbewußt in jedem Menschen vorgebildet liegen, sozusagen in Reinkultur vor uns haben .... es folgt daraus: Tradition und Schulung vermögen den Gestaltungsvorgang nur an seiner Peripherie zu beeinflussen, indem sie durch Lob und Tadel, Regeln und Schematismen fördern. Es gibt aber sozusagen einen Kernvorgang, zu dessen Ablauf in jedem Menschen die Fähigkeiten vorgebildet sind." Der künstlerische, Schauvorgang und die Halluzination stehen darum, weil sie beide aus Gestaltungsvorgängen kommen, im Grunde gleich. „So gewiß nämlich Gestaltung eine Tätigkeit ist und an sich mit Visionen und ähnlichem nicht viel zu tun hat, so gewiß weist die Fähigkeit, anschauliche Bilder in Träumen und hypnagogischen Halluzinationen zu erleben, auf eine ursprüngliche Gestaltungskraft hin." Selbstverständlich ist auch Prinzhorn der Meinung, daß dieser jedem Durchschnittsmenschen angebotene originale Gestaltungsdrang durch die zivilisatorische Entwicklung verschüttet worden ist. Diese Meinung haben wir durch die Psychoanalyse und den Marxismus ununterbrochen vertreten gehört. In ihr liegt die Quelle der wertenden Gleichsetzung des banalen Durchschnittsmenschen, des Entarteten mit dem Künstler.

8. Nicht einmal in den Untersuchungen der Jaenschschen Schule. Von den Unterschieden, die zwischen Hochkunst des Abendländers und Kunst der Primitiven hinsichtlich der geschichtlichen Entwicklung der Kultur bestehen, sehe ich hier ab. Sie wurden aber in den üblichen Gleichsetzungen, gegen diese wir uns hier wenden, vollständig unterdrückt oder übersehen.

9. Selbstverständlich ist auch Prinzhorn dieser Ansicht. Man kann nicht sagen, ob ein Bildwerk von einem Geisteskranken stamme, weil es die Merkmale des Krankhaften trage. Daher lehnt es Prinzhorn auch ab, Parallelen zwischen der Zeitkunst und seinen Irrenbildern zu ziehen, denn es sei falsch, aus der Ähnlichkeit der äußeren Erscheinung die Gleichheit der dahinter liegenden seelischen Zustände zu konstruieren. Es ist merkwürdig, daß hier das Argument zum Vorschein kommt, welches doch eigentlich am Anfang der ganzen Untersuchung hätte gewürdigt werden müssen. Nachdem Prinzhorn ein ganzes Buch hindurch die formale Gleichheit der Gestaltungvorgänge proklamiert hat, entdeckt er plötzlich ihre angeblichen Unterschiede dort, wo es nun darauf ankommt, aus der Gleichheit die Konsequenzen zu ziehen.

10. Auch Metto ist natürlich der Meinung, daß das Problem der Genese der Kunst und des Künstlertums eines der schwierigsten und der umstrittensten der modernen psychologischen Forschung sei. Die Drastik psychopathologischer Phänomene sei nicht selten geeignet, besonders günstige Dispositionen für die Erörterung verwandter normalpsychologischer Verhältnisse zu verschaffen. Es sei daher viel daran gelegen, hinter der äußeren Ähnlichkeit der Erscheinungen eine tatsächliche Verwandtschaft nachzuweisen oder aber ihre Zufälligkeit oder innere Bedeutungslosigkeit ins Licht zu stellen. Man müsse insbesondere an die wechselseitige Erhellung einer Reihe überzeugender Grenzphänomene lenken. Der Gedanke an eine irgendwie geartete Verwandtschaft zwischen Schizophrenen und Künstlern liege nicht ganz fern. Dagegen sei es notwendig, auch die Beziehungen zwischen Spracheigentümlichkeiten Schizophrener und dichterischen Produktionen zu untersuchen. Man sieht, der Ansatz und die Beweisführung ist im Grunde genau die gleiche wie bei Lombroso, Lange-Eichbaum und bei Prinzhorn. Man sekundiert sich gegenseitig, ohne im Grunde genommen auch nur ein einziges neues Argument zu bringen. Nur die Dialektik der Beweisführung wird feinmaschiger und darum schwerer zu durchschauen. Mette vergleicht nun schizophrene Gedichte mit einem dadaistischen Produkt. Es ist lehrhaft, wenigstens ein Stück der Beispiele gegeneinander zu stellen, die Mette miteinander vergleicht:

Entwickelt!
Weiter!
Herum!
Empor!
Geatment!
Licht!
Licht!
Da schaut der Vater!
Er wird kühner!
Die Jungfrau, Mutter!
Wird sie bald dem Vater!
Erkzeugen gibt dir Kraft!
Erhöhte Sinne!
Und alles lebt in ihm erhöhtes Leben!
Das Schaffen macht gesund!
Gesund!
Und nun herum!
Herum!
Horchen Horchen
Schärfen Horchen
Schwingen Schreie
Töne Töne
Rufe Rufe
Klappen Klarren
Klirren Klingen
Surren Summen
Brummen Schnurren
Gurren Gurren
Gurgeln Gurgeln
Pstn Pstn
Hsstn Hsstn
Rurren Rurren
Sammeln Sammeln
Stammeln Stammeln
Worte Worte Worte
Wort


Fertig!
Weiter!
Das Wort!
Greifbar!
Macht gesund!
Das Wort!
Es wird dann ausgeführt, daß der Rhythmus das Gestaltungsprinzip der Gegenwart ist (im Anschluß an eine kurze Theorie der expressionistischen Poetik von Lothar Schreyer). Man vergleiche diesen Satz mit dem Satz von Prinzhorn. Der Rhythmus sei Ausdruck und Macht. Die Harmonie wolle Endlichkeit, Vollkommenheit: die Macht wolle kein Ende. Sie sei nie vollkommen. Unvollkommen, unendlich sei der Rhythmus. Er sei die Auflösung jedes Maßes. Das Kunstwerk der Gegenwart sei aharmonisch, sei rhythmisch. Die äußere Verwandtschaft des schizophrenen Depeschenstils, der schizophrenen Sprachgedrängtheit, der knappen Wendungen, die die konventionelle Grammatik durchbricht so, z. B. wenn ein Kranker nicht etwa sagt: „ich übernachte im Gasthof Goldenen Krone, bekomme kein Bett, weder im Hotel, im Gasthof noch privat. Es ist alles besetzt", sondern: „nachte gasthofs goldenen krone, kein bet, weder hotel gasthofs noch privat, ist besetzt", mit den Ausdruckstendenzen des Expressionismus, zwinge ein höheres Interesse ab, denn die Darstellung enthalte in einigen Elementen einen Fingerzeig für ihre inneren Bedingungen. Sie sei dadurch gegeben, daß den Dichter der Begriff des Ausdrucks für das Erlebnis von etwas Ungreifbarem zu seinen eigentümlichen Freiheiten berechtige. Die Sprachumgestaltung geschehe auf dem Boden einer besonderen emotionalen Erregung, in der der spezifische Erlebniswert des erlebten Dinges die Eingliederung in die zu Gebote stehenden festen Sprachformen unmöglich mache. Es ist das also genau dasselbe wie auf dem Gebiete der bildenden Kunst von Prinzhorn behauptet wurde. Die Gestaltungstendenz kann sich in den Formen organischer Richtigkeit und Vollständigkeit nicht äußern, so kann sich auch die besondere emotionale Erregung des expressionistischen Dichters nicht in die grammatischen Formen der normalen Sprache einfügen. Die affektive Erregung des expressionistischen Dichters führe zu unmittelbaren Entladungen. So führt auch die Prinzhornsche Gestaltungskraft zu unmittelbarer zweckfreier Entladungskunst. Selbstverständlich wird auch von Mette die schiophrene Emotionalität der künstlerischen Emotionalität gleichgesetzt und vorausgesetzt, daß die Krankheit produktive Kräfte frei macht. „Krankheit und Genialität erscheinen in dieser Perspektive als zwei entgegengesetzte Endergebnisse derselben, im wesentlichen durch ein Übermaß sensibler und emotionaler Komponenten charaktersierten Konstitution". Auch bei Mette fehlt nicht die unberechtigte Gleichsetzung zwischen dem Selbstzeugnis des Geisteskranken und dem Selbstzeugnis des Dichters. Und es wird als ein Phänomen von außerordentlichem Interesse hingestellt, daß, wie in der Sprache mancher Schizophrener dichtungähnliche, so in der mancher Dichter ganz dem Schizophrenen ähnliche Ausdrucksmerkmale und Gestaltungskennzeichen gefunden werden können.

11. Substanzgedanke.

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