Museum der Wahnsinnigen Schönheit
Stellungnahme - Prinzhorn Sammlung



Im Rahmen des Konzeptes für das in Berlin geplante „Museum der Wahnsinnigen Schönheit", verbunden mit einer Gedenkstätte an die Opfer der „Euthanasie" unter nationalsozialistischer Herrschaft in Deutschland, soll nun zunächst Stellung bezogen werden zu der von dem Psychiater Hans Prinzhorn in den 10er und 20er Jahren dieses Jahrhunderts angelegten Gemälde- und Plastikensammlung. Die Stücke dieser Sammlung wurden von Insassen0 verschiedener psychiatrischer Anstalten im In- und Ausland erstellt.

Besondere Berücksichtigung findet hierbei die von Hans Prinzhorn verfaßte Untersuchung „Bildnerei der Geisteskranken", 1922 erschienen. Das dieser zugrunde liegende biologistische Erklärungsmodell des Wahnsinns ist auch heute noch, oder/und verstärkt wieder Basis psychiatrischen Handelns. Hans Prinzhorn erklärt darüber hinaus Gestaltung aus der Perspektive der Psychologie heraus, sein kunsttheoretischer Ansatz interpretiert Werke unterschiedlicher Epochen und Kulturkreise vom Standpunkt der Psychologie seiner Zeit aus. Diese beiden Grundannahmen, zum einen die biologistische Erklärung von Psychose, zum anderen die Charakterisierung von Kunst durch psychologische Kategorien, sollen im folgenden näher beleuchtet werden.

Prinzhorn geht in seiner Auffassung von Welt von einem metaphysischen Grundbedürfnis des Menschen aus, welches sich in Gestaltung manifestiere. Dieser dem Menschen innewohnende Drang etabliere sich nun in Form von Hierarchie innerhalb des menschlichen Lebenszusammenhanges, unabhängig von Zeit und Raum, als ursprüngliche Äußerung des Lebens überhaupt. Der zeitgenössischen Auffassung konform, interpretiert er Kunst sog. „Naturvölker" als „primitive" Kunst, läßt diese nicht als Kunst per se gelten, sondern subsumiert sie unter dem Oberbegriff Gestaltung. Innerhalb dieser Hierarchie der Gestaltung befinde sich die Kunst der sog. „Urvölker" also auf einem niedrigeren gestalterischen Niveau als die der sog. „Kulturvölker". Prinzhorn bindet nun die darstellerischen Äußerungen von Kindern und jene der psychiatrischen Patienten ebenfalls in diese hierarchische Struktur ein, und zwar indem er diese drei Äußerungen des Gestaltungsdranges miteinander vergleicht und dem Phänomen, welches er als Kunst gelten läßt , gegenüberstellt.

Nun müßte zunächst geklärt werden, welche Kriterien nach Prinzhorn erfüllt sein mußten, um das Gestaltete innerhalb dieser Hierarchie auf die Ebene von Kunst zu heben. Diese Klärung bietet Prinzhorn in seiner Abhandlung allerdings nicht, obwohl ein implizites Bewertungsschema kontinuierlich mitschwingt. Er erwähnt lediglich, daß ein Werk dann „stark" sei, „wenn ein geeigneter Beschauer ein möglichst ähnliches Erlebnis (wie der Künstler) daran haben kann".1 Seinen Kritikern von psychiatrischer Seite her wirft er in diesem Zusammenhang Kunstunverstand vor, jenen der Kunsttheorie psychologische Unwissenheit.

In der Logik der Abhandlung Prinzhorns spielt die Darstellung eines „realen Gegenstandes"2 eine zentrale Rolle; der Künstler lege danach in dieses Abbild sein individuelles Erleben, welches vom Betrachter nun möglichst exakt erfaßt werden soll. Demgegenüber steht das „symbolische Bild"3, in dem sich eine magisch-religiöse Vorstellungswelt dokumentiere. Elementare These des Autors ist hierbei das nicht Zweckgerichtete des Gestaltungsvorgangs: „Entscheidend bleibt aber die Grundlage, daß alles Gestaltete Ausdrucksbewegungen des Gestalters verkörpert, die als solche unmittelbar, ohne Zwischenschaltung eines Zweckes oder sonst einer rationalen Instanz erfaßbar sind."4 Dieses nicht zweckgerichtete Schaffen motiviert Prinzhorn durch ein gewisses Bedürfnis des Schaffenden, seine Befindlichkeit den Mitmenschen mitzuteilen, wobei er dies eher als Wunsch nach Ausdruck denn als nach Mitteilung begreift.

Im weiteren soll auf die Prinzhornsche Analyse der Sammlung selbst eingegangen werden. Wie bereits erwähnt, faßt dieser Wahnsinn als körperlich-biologische Erkrankung des Menschen auf, deren Ursachen en detail der Wissenschaft noch nicht erschlossen seien. Prinzhorn nähert sich den Werken der Sammlung über bereits gestellte psychiatrische Diagnosen, geht von diesen aus deutend vor. Er sucht die Psychopathologie in den Darstellungen der Anstaltsinsassen, findet sie allerdings nicht in der Art deren Gestaltung, sondern in den geformten Inhalten. Er kommt zu dem Schluß, daß es keine explizit „schizophrene" Gestaltung gebe, die Werke der psychiatrischen Patienten ausschließlich nach den für alle Kunst geltenden Leistungsmaßstäben beurteilt werden müßten. Diese seine Sichtweise schließt aber keineswegs das Wiederauffinden psychopathologischer Symptome, in Kenntnis der Patienten, in den künstlerischen Darstellungen aus.

Die Bildwerke und Plastiken der Anstaltsinsassen unterzieht der Autor einem ausführlichen Vergleich mit Kinderzeichnungen und sog. „primitiver" Kunst und entdeckt hierbei die Existenz von „urtümliche(n) Bilder(n)".5 Diese seien allgemeinmenschliche Ausdrucksformen, welche sich in besonders reiner Form bei den sog. „Naturvölkern" fänden, auch noch relativ klar bei Kindern, beim Erwachsenen der sog. „zivilisierten Welt" aber durch den Prozeß der Zivilisation zurückgedrängt seien. Diese ursprünglichen Äußerungen würden nun durch den seelischen Ausnahmezustand des Wahnsinns und der Abgeschiedenheit der psychiatrischen Anstalten wieder zum Vorschein kommen. So erklärt sich Prinzhorn u. a. auch die z. T. verblüffende Ähnlichkeit zwischen den Werken der Patienten mit denen aus z. B. Afrika oder Neu Guinea stammenden. Diese Hochschätzung vermuteter Bewußtseinszustände der sog. „Primitiven" seitens Prinzhorns steht in einem gewissen Widerspruch zu der von ihm etablierten Hierarchie der Gestaltung, welcher allerdings im Rahmen der Abhandlung nicht aufgelöst wird. Er stellt eine Verknüpfung her zwischen dem für ihn magisch-spirituellen Erleben der sog. „Naturvölker" und dem Seelenleben der ihm zeitgenössischen Anstaltsinsassen. Bindeglied sei hierbei die metaphysisch-esoterische Veranlagung des Menschen, welche also im Verlauf der körperlich bedingten, schizophrenen Erkrankung zum Vorschein kommen könne, dies aber keineswegs zwangsläufig bei allen Erkrankten müsse.

Als krankheitswertige Züge filtert Prinzhorn eine „verantwortungslose Phantastik" und eine „pointelose Konsequenz"6 aus den Stücken der Sammlung heraus, wobei er für diese, von ihm gelesenen Wesenszüge den attestierten psychotischen Autismus der Kranken verantwortlich macht.
Nun soll die psychiatrische Haltung, welche Prinzhorn den Patienten gegenüber einnimmt, näher betrachtet werden. Diese ist geprägt von kühler Distanz des Beobachters zu seinem Objekt, welches nicht als Mensch interessant ist, sondern als Träger eines forschungsrelevanten psychopathologischen Syndroms. Schon der Stil des Autors macht dies deutlich, dort, wo er z. B. von einem „besonders hübsch(en)"7 Beispiel für das Symptom der Kontamination spricht. Wahnsinn ist für Prinzhorn äquivalent mit autistischer, völlig subjektiver Weltabgewandheit, welche vom Arzt in geradezu zoologischer Manier begutachtet wird. Prinzhorn nähert sich dem Wahnsinn ohne Mitgefühl. Diese Sichtweise degradiert den Wahnsinn zu bloßer somatischer Äußerung, jeglicher Kommunikationscharakter ist ihm von vornherein abgesprochen. Prinzhorn legt zwar die Biographien einiger kunstschaffender Insassen dar, sucht in diesen aber keinen Hinweis auf Auslöser für die seelische Verfaßtheit der Patienten, welche er ausschließlich über die Biologie erklärt. Die in den Werken oft zum Ausdruck kommende innere Hölle, das Zerrissensein der Maler und Plastiker findet bei dem Psychiater keinerlei Beachtung.

Diesem Muster soll hier das Begreifen des Wahnsinns als Ergebnis eines menschlichen Interaktionsprozesses gegenübergestellt werden. Deutet man Psychose nicht biologistisch, sondern als Tatsache innerhalb der persönlichen Entwicklung eines Individuums, eingebettet in ein soziales, gesellschaftliches Beziehungsnetz, kommt den Lebensläufen der Maler der Sammlung eine weit höhere Relevanz zu, als sie diesen von Prinzhorn zugebilligt wird. Die überwiegende Mehrzahl dieser Biographien ist gekennzeichnet von Gewalt, repressiven Kommunikationsstrukturen und sozialer Not. Grundlegende These des Konzeptes des „Museums der Wahnsinnigen Schönheit" ist die Wahrnehmung des Wahnsinns als gestörte zwischenmenschliche Interaktion, als individuelles Leiden an gesellschaftlich etablierten Gewalt- und Machtstrukturen, welche in unterschiedlicher Art und Weise in den bekannten Epochen der Menschheitsgeschichte und in unterschiedlichen Kulturkreisen zu jeweils verschiedener Ausprägung gelangen, in ihrer Grundtendenz aber in allen Gesellschaften vorhanden sind.

Vor diesem Hintergrund fällt auch auf die Stücke der Sammlung ein völlig anderes Licht als das der Prinzhornschen Deutung. Als Motiv für künstlerische Gestaltung gibt der Autor einen in der Biologie des Menschen verankerten, zweckfreien Gestaltungsdrang an. Auch hier blendet er das Bedürfnis nach Kommunikation und logischer Strukturierung des vom Individuum wahrgenommenen Lebenszusammenhangs völlig aus. Gerade der Modernen Kunst war und ist es ein besonderes Anliegen, soziale und gesellschaftliche Interaktionsmechanismen sichtbar zu machen, und zwar unter Auflösung traditioneller Formgebung. Dies geht weit über das mehr oder weniger realistische Abbilden realer Gegenstände hinaus; die Gegenstände werden in Bezug zueinander gesetzt, und zwar keineswegs in absichtsloser Erlebnisschilderung, sondern aus einem elementaren Kommunikationsbedürfnis heraus. Über Kunst setzt sich der Schaffende in ein Verhältnis zur Außenwelt und versucht, über den Ausdruck auf diese einzuwirken. In gleichem Maß, wie der Wahnsinn als Interaktion begriffen werden will, gilt dies für die künstlerische Darstellung. Wird, wie bei Prinzhorn, Gestaltung ausschließlich als zweckfreies Bedürfnis nach Ausdruck verstanden, wird nur noch nach dem Wie der Darstellung von Welt gefragt, nicht aber nach dem Was.

Nun tritt der Künstler aber gerade über dieses Was in den Kommunikationsprozess ein. Indem er das für ihn charakteristische des wahrgenommenen Außens in seiner Form wiedergibt, sich also dazu äußert, hat er Teil an der Interaktion, in der Realität geschaffen wird. Wassily Kandinsky äußert sich hierzu folgendermaßen: „Die Malerei ist eine Kunst und die K u n s t im ganzen ist nicht ein zweckloses Schaffen der Dinge, die im Leeren zerfließen, sondern eine Macht, die zweckvoll ist, und muß der Entwicklung und Verfeinerung der menschlichen Seele dienen ..."8 Der Künstler ist also über die Auswahl des Was und über die Form Glied der Auseinandersetzung des Menschen mit dem Außen, er wirkt gestalterisch auf dieses ein, und zwar in einem kommunikativen Sinn. Gestaltung wird hier nicht lediglich als Ausdruck einer psychischen Verfaßtheit verstanden, sondern als Handeln innerhalb gesellschaftlicher Kommunikationsstrukturen. Dies gilt für den allseits beachteten Künstler ebenso wie für jenen in psychiatrischer Behandlung internierten. Jede menschliche Aktion hat also Interaktionscharakter, sei es der tägliche Abwasch in der häuslichen Küche, oder die für die Mitwelt -oberflächlich betrachtet- oft schwer verständlichen Äußerungen des Wahnsinnigen, oder aber Kunst. Die kommunikative Zweckgerichtetheit von Kunst wird in der Moderne von den Schaffenden immer wieder betont, von Kandinsky ebenso wie von Picasso und v. a. m.. Die unterschiedlichen erarbeiteten Techniken sind völlig auf Rezeption ausgerichtet, d. h. auf Dialog mit dem Publikum.

Wenn man dieses Interaktionsbedürfnis nun auch dem Wahnsinnigen nicht abspricht, wie es u. a. Prinzhorn tut, sondern schon das Formulieren des Wahns selbst als kommunikativen Akt begreift, wird das biologistische Erklärungsmuster für Psychose brüchig und Wahn erscheint eben gerade als Tatbestand innerhalb zwischenmenschlichen Handelns, welches beide Seiten einschließt, den Wahnsinnigen ebenso wie die ihn behandelnde „normale" Welt. Diese Auffassung steht in fundamentalem Gegensatz zu derjenigen Prinzhorns, welcher in der Gestaltung, und damit im Leben generell - da er eben Leben als einen einzigen, mehr oder weniger autistischen Gestaltungsablauf begreift - die „biologisch begründete Norm"9 sucht. Vor diesem Raster soll die fast vollständige Ignoranz Prinzhorns der sozialen Lage der Patienten gegenüber nochmals erwähnt werden, wobei „sozial" in seiner Bedeutung nicht auf materielle Bedingungen verengt wird, sondern individuelle Interaktion im gesellschaftlichen Zusammenhang mitmeint. Diese Ignoranz reduziert die Interpretation der Stücke der Sammlung auf Suche nach biologisch begründbaren psychischen Verfaßtheiten und ist dem Bemühen um Verständnis der inneren Konfliktlage der wahnsinnigen Kunstschaffenden diametral entgegengesetzt.

Im weiteren soll eine Auseinandersetzung mit den kunsttheoretischen Implikationen Prinzhorns stattfinden. Hierzu läßt sich zunächst festhalten, daß dieser einen extrem verengten Blick auf den Symbolismus, auf Symbolik überhaupt wirft. Die von ihm in der sog. „primitiven" Kunst gesichtete magisch-spirituelle Symbolik überträgt er ohne Bedenken auf einen anderen Kulturkreis, ohne Rücksicht auf den soziologischen und geistesgeschichtlichen Kontext, den Zeitgeist der Jahrhundertwende, des ersten Weltkrieges und der Weimarer Republik, welcher nun schwerlich mit den Lebensbedingungen damaliger z. B. afrikanischer Gesellschaften in eins zu setzen ist.

Ebenso blendet Prinzhorn die Distanz, welche ein Künstler zu seinem Werk einnimmt, völlig aus. Als einzige Motivation für künstlerisches Schaffen läßt er „Anschauungsbild oder Gefühl"10 gelten. Nun gibt es aber keinen einleuchtenden, kunsttheoretisch fundierten Grund, dem Kunstschaffenden, sei er nun wahnsinnig oder nicht, die Wahrnehmung seines Werkes als ein Außen von vornherein abzusprechen; d. h., die Aussage eines Werkes muß als solche ernst genommen werden.

Prinzhorn räumt ein, daß sich in den Malereien und Plastiken der Sammlung Leitmotive finden, erklärt diese aber nicht kunststheoretisch, sondern beschränkt sich auf psychologische Interpretation. Dies wird von ihm immer wieder betont; er gewährt aber einigen der Stücke künstlerische Bedeutsamkeit, legt aber seine Bewertungsmaßstäbe beim Interpretieren von Kunst nicht offen. Allerdings scheint er die ihm zeitgenössische Kunst zwar wahrgenommen, doch für seine Ausführungen nicht ernst genommen zu haben. Offensichtlich fällt es dem Autor leicht, Kunstprodukte als technisch höher- oder geringerwertig einzuordnen, auf welche Kriterien er sich dabei bezieht, bleibt allerdings ebenfalls dunkel. Die Beurteilung von Kunst hinsichtlich der verwendeten Technik ist ohnehin kunsttheoretischer Natur und steht in Kontradiktion zu Prinzhorns Anspruch auf psychologische Ausdeutung.

Prinzhorn betont immer wieder den unreflektierten Entstehungsprozeß der Werke der Sammlung. Dies mag für die Vielzahl der Stücke zutreffend sein, ist aber kein Einwand gegen deren korrekte Einordnung in den historischen Ort, zu dem sie rein chronologisch gehören. Außerdem spricht nichts dagegen, daß ein ansonsten Wahnsinniger ein rational konstruiertes Kunstwerk schafft, selbst wenn sich in diesem z. B. die Darstellung einer Sinnestäuschung finden sollte.

Prinzhorn spricht sich explizit gegen das „Ergründen- und Entlarven-Wollen"11 von Kunstwerken aus, also gegen Interpretation; doch tut er gerade das auf der Basis seines psychologisch-psychiatrischen Blickwinkels, scheint diesen selbst aber nicht als gesetzen, relativen Maßstab bei der Auseinandersetzung mit Kunst zu erkennen, sondern setzt diesen absolut, unter Berufung auf biologische Notwendigkeit. Hier kommt wieder das Ausblenden von Kommunikation, Interaktion, auch im Wahn, zum Ausdruck, welches in der Konsequenz immer wieder zum Ausblenden der Strukturen sozialer Verbände führt.

Prinzhorn vergleicht, wie bereits erwähnt, die Stücke der Sammlung mit sog. „primitiver" Kunst und mit Kinderzeichnungen, nicht aber mit Werken der zeitgenössischen, Modernen Kunst. Die historisch korrekte Positionierung des Werkes aber ist unablässig für eine annähernd zutreffende Deutung von Kunst. Deren Inhalt und deren Formgebung kann nicht ohne den kunst- und gesamthistorischen Hintergrund verstanden werden. Prinzhorn zieht bei seinem Vergleich den Schluß „Geisteskranke malen wie Kinder und Primitive, also sind sie es". Gerade diese Schlußfolgerung weist er für Werke der von ihm anerkannten Kunst zurück. Es ist durchaus nicht auszuschließen, auch aufgrund der Biographien einiger seiner „Meister", daß die Anstaltsinsassen im Lauf ihres Lebens mit Werken zeitgenössischer Kunst konfrontiert waren. Selbst wenn dies bei vielen nicht der Fall gewesen sein sollte, so spiegeln die Stücke der Sammlung doch den damaligen Zeitgeist wieder, speziell auch solche, welche Prinzhorn als kindische Zeichnerei abtut. Bei der Deutung der Werke hat sich Prinzhorn in weiten Strecken auf reine Deskription dessen, was auf den Gemälden vermeintlich unmittelbar sichtbar ist, beschränkt, dabei deren Formgebung im Wesentlichen in Bezug gesetzt - neben den bereits aufgeführten Vergleichsbemühungen seinerseits - zu den Kunstprodukten der „alten Meister".

Diese gehören aber einer völlig anderen Kunstepoche an als die Produkte der Sammlung. Diese Unterlassung der sowohl historischen als auch kulturkreisabhängigen Zuordnung zu unterschiedlichen Sinnzusammenhängen führt zu der von dem Kunsthistoriker Erwin Panofsky geschilderten Verwirrung: „... wie denn z.B. ein Mensch, der nie etwas vom Inhalt der Evangelien gehört hätte, das Abendmahl Lionardos wahrscheinlich als die Darstellung einer erregten Tischgesellschaft auffassen würde, die sich - dem Beutel nach zu schließen - wegen einer Geldangelegenheit verunreinigt hätte."12 Prinzhorn unterläßt also eine stil- und soziohistorische Integration der Sammlung, ausgehend von der Prämisse, daß den Erstellern der Werke die zeitgenössische Kunst nicht geläufig war. Dies müßte aber zunächst einmal detailliert belegt werden, was nicht geschehen ist. Und selbst wenn dem so wäre, bleibt immer noch der Bezug zum Zeitgeist mit seiner alle Lebensbereiche durchdringenden Darstellungskraft.

Die Form hatte sich zu Prinzhorns Zeit emanzipiert, der gesellschaftliche Umbruch fand seinen Ausdruck, und zwar nicht nur in ausgesuchten Kunsthallen, sondern auf breiter sozio-kultureller Ebene. Die Stücke der Sammlung können nicht als sog. „primitive" Kunst oder Kinderzeichnungen gedeutet werden, einfach weil sie eben von Erwachsenen um die Zeit der Jahrhundertwende und etwas später erstellt wurden. Daß diese Erwachsenen an seelischen Störungen litten, mag sich in den Bildern widerspiegeln, doch können diese Werke nicht ausschließlich unter diesem Aspekt interpretiert werden, sondern müssen in ihrem Gehalt in die historische Situation ihrer Entstehungszeit integriert werden.

Panofskys Argumentation folgend, kann ein Kunstwerk erst aufgrund einer „gesicherte(n) Stilerkenntnis"13 interpretiert werden, und sei es auch nur rein deskriptiv, denn schon die bloße Beschreibung eines Werkes ist ihmzufolge Interpretation. Dieser Sichtweise schließt sich das Konzept des „Museums der Wahnsinnigen Schönheit" an. Da nun Prinzhorn aber offensichtlich kein Verhältnis zur Modernen Kunst hatte, geht seine Abhandlung an diesem Verständnis von Interpretation gründlich vorbei. Ebenso geht er fehl in seinen Deutungsversuchen der Kunst Hieronymus Bosch´. Auch hier blendet er den stilistischen und gesellschaftlich-historischen Kontext aus und sucht in den Gemälden Bosch’ unbewußte Konflikte. Aus der Zeitperspektive Bosch’ kann diese Thematik aber keine Rolle spielen, da zu dessen Lebzeiten das Unbewußte als Konzept zur Annäherung an Lebensumstände nicht existierte. Hieronymus Bosch verfolgt mit seinem Werk also völlig andere Absichten in seinem Ausdruck.

Dies zu verleugnen bedeutet, dem Künstler jegliche autonome Reflexion und seine Abgrenzungsfähigkeit zu dem von ihm Geschaffenen abzusprechen. Kunstinterpretation deformiert hier zur Suche nach psychopathologischen Vorgängen bei Künstler und Werk, im psychiatrisch-biologistischen Ansatz dann implizit zur Suche nach biologischer Fehlleistung. Seriöse Kunstinterpretation bedarf aber einer Einbeziehung möglichst aller Komponenten, welche in stilistischer und inhaltlicher Hinsicht für die Entstehung eines Werkes relevant sein könnten. Sie bedarf also einer möglichst korrekten stilistischen und historischen Integration des Werkes in den Gesamtzusammenhang. Prinzhorn gesteht zwar einigen Werken der Sammlung Kunstcharakter zu, doch dies im äußersten im Vergleich mit, bezogen auf die Formauflösung, eher gemäßigten Kunstrichtungen. Dies mag wohl seinem persönlichen Geschmack entsprechen, läßt aber z. B. einen Kandinsky oder auch den Kubismus völlig aus der Betrachtungsweise heraus.

Nun soll der sozio-kulturelle Hintergrund, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, der Entstehungszeit der Sammlung kurz charakterisiert werden. Diese Epoche war eine ausgesprochen gewalttätige, was schließlich seinen vorläufigen Gipfel fand im ersten Weltkrieg, um danach in Deutschland auf den Nationalsozialismus zuzusteuern. Sie war ebenso gekennzeichnet von zunehmenden Emanzipationsbestrebungen seitens der Frauen. Die aus dem 19. Jhdt. tradierten Wertvorstellungen und Orientierungsfixpunkte wurden grundsätzlich erschüttert. Die wuchtige Suche nach neuen Möglichkeiten individuellen und gesellschaftlichen Handelns breitete sich auf allen Ebenen des Lebens aus. Zuvor versteckt vorhandene Gewalt- und Machtverhältnisse wurden enttabuisiert und Objekt öffentlicher Debatte. Dies führte zu einer allgegenwärtigen Verunsicherung.

Auf dieser Grundlage werden viele Stücke der Sammlung in anderer als psychologischer Hinsicht verständlich. Die zum Ausdruck kommenden Gewaltverhältnisse sind dabei für die gegenwärtige Gesellschaft durchaus von ungebrochener Relevanz. In einer Vielzahl der Werke läßt sich eine aggressive Tendenz nachweisen, welche wohl in Zusammenhang steht mit der von Prinzhorn angeführten „pointelosen Konsequenz". In den häufig ornamenthaften Kompositionen der Sammlung spiegelt sich u. a. die Seelenlage von Tätern und Opfern, oft beides in einer Person vereint und als repräsentatives Spiegelbild eingebunden in eine gesamtgesellschaftliche Aggressionshierarchie. Diese moralische Folie der künstlerisch tätigen Anstaltsinsassen reflektiert über weite Strecken erlittene und anderen zugefügte Gewalt, wie auch aus den von Prinzhorn mitgeteilten Biographien hervorgeht. Die gesellschaftlich gegebenen Herrschaftsverhältnisse werden besonders deutlich an der Darstellungsweise der Frau innerhalb der Sammlung.

Diese tritt zumeist lediglich als Sexualobjekt in Erscheinung. Diese sexuelle Haltung kollidierte, nicht nur in psychiatrischen Anstalten, mit dem erwachenden Selbstbewußtsein der Frauen. Diese Konfliktlage findet auch in den Darstellungen der Sammlung ihren Platz, wobei ein nicht unerheblicher Anteil der Patienten im Lauf des Lebens gewalttätig gegen Frauen geworden war, was sich ebenfalls aus den Biographien erschließen läßt. Ebenso kristallisiert sich eine ratlose Abwehrhaltung gegenüber neuen Ansprüchen seitens der Frauen aus vielen Gemälden und Plastiken heraus.

Die Werke der Sammlung sagen also etwas aus über den Zeitgeist, über auch heute noch wirksame Gewaltverhältnisse innerhalb der Gesellschaft, basierend auf der Feststellung, daß Wahnsinn das Ergebnis und Teil menschlicher Interaktion ist. Wahnsinn wird im Rahmen des Konzeptes des „Museums der Wahnsinnigen Schönheit" als Produkt zwischenmenschlicher Gewalt- und Machtverhältnisse begriffen. Diese finden sich in sog. „primitiven" Gesellschaften ebenso wie in „zivilisierten". Hinter dem Wahnsinn verbirgt sich weder ein metaphysisch-esoterischer Tatbestand, noch ein irgendwie „archaischer" Bewußtseinszustand, sondern er bedeutet den inneren Zusammenbruch eines Menschen als Resultat erlittener und zugefügter Verletzungen, welche Interaktion in unterschiedlichen Gesellschaften mitprägen. Diese Gewaltbereitschaft kulminierte in unserem Jahrhundert auf traurige Weise im Holocaust. Vor diesem Hintergrund findet die Verknüpfung der Prinzhorn-Sammlung mit der geplanten Gedenkstätte an die Opfer der „Euthanasie" ihrer Berechtigung, vielleicht auch ihre Notwendigkeit.

Aus zwei Argumentationssträngen heraus wird es für bedeutsam erachtet, die Sammlung als sog. „Irrenkunst" vollständig aus dem psychiatrischen Kontext zu lösen. Zum einen soll der Wahnsinn nicht ausschließlich aus der Perspektive psychiatrischer Diagnostik betrachtet, sondern als Tatsache in seiner sozialen, individualgeschichtlichen und damit auch gesellschaftlichen Entstehungsgeschichte beleuchtet werden. Der Wahnsinn soll aus der Verschwiegenheit der Anstalt und der Familie heraustreten und als gleichberechtigter Partner die Sprachlosigkeit überwinden. Dies ist nur möglich im Rahmen eines Forums, welches ihn von materiellen und ideellen Abhängigkeiten emanzipiert. Hierfür bietet die vorgesehene Organisationsform des Museums der „Wahnsinnigen Schönheit" ideale Voraussetzungen. Die zweite grundlegende Intention des Projektes besteht in der beabsichtigten Trennung der Kunstbetrachtung/Kunsttheorie von medizinischer Forschung. Es geht hierbei wesentlich um die Eröffnung neuer Horizonte bei der Bewertung künstlerischer Äußerungen, unabhängig von dem Gesundheitszustand des Kunstschaffenden.

Das soziale Schicksal der Anstaltsinsassen, welche die Werke der Prinzhorn-Sammlung schufen und in einer Vielzahl der „Euthanasie" zum Opfer fielen, soll durch die Gedenkstätte deutlich werden. Hierbei wird die Aufarbeitung der Geschichte der „Euthanasie" in ihren geistes- und medizingeschichtlichen Zusammenhängen und ihrer Relevanz für die Gegenwart einen breiten Raum einnehmen.

Petra Storch



Fußnoten:

0) auf die Schreibung der weiblichen Endungen wurde zu Gunsten der formalen
Vereinfachung verzichtet, diese sind aber jeweils mitgemeint

1) Hans Prinzhorn, Bildnerei der Geisteskranken, Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg,
New York, Tokyo, Vierte Auflage, 1983, S. 48

2) ebd., S. 48

3) ebd., S. 40

4) ebd., S. 11

5) ebd., S. 306

6) ebd., S. 298

7) ebd., S. 86

8) Wassily Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, Benteli-Verlag Bern, 10.
Auflage, S. 134

9) Hans Prinzhorn, a. a. O. S. 349

10) ebd., S. 48

11) ebd., S. 333

12) Erwin Panofsky, Zum Problem, der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken
der bildenden Kunst, in: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, Berlin
1974, S. 86

13) ebd., S. 89

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