Narrenspiegel: Herr Tietze: Für alle,
die Sie nicht kennen: Wer sind Sie, und was machen Sie?
Ulrich Tietze: Ich bin Ulrich Tietze, 42, Pastor. Ich war ein
Dreiviertel Jahre hier in Lüneburg bei St. Michaelis und gehe jetzt
nach Neetze. Ich werde dort Anfang Dezember meine Arbeit aufnehmen.
Ich bin Pastor seit Februar 1989. St. Michaelis im Bezirk Nord war
für mich sehr reizvoll, weil dort die sozialen Brennpunkte sich häufen:
Herberge zur Heimat, Stövchen, Mutter-Kind Treff, das Rotlicht-Milieu,
Annenviertel unten bei der Sülzmauer.... Die Arbeit mit Menschen,
die am Rand stehen, fand ich für mich immer viel spannender als mit
saturierten Leuten. Wobei ein Zentrum meiner Arbeit die Seelsorge
war, also das Begleiten von Menschen. Das schließt alles andere
nicht aus: Jugendarbeit, Publizistik oder so; aber im Grunde der Wunsch,
Menschen zu begleiten.
Als ich mich entschied, nach Michaelis zu gehen, da wußte ich nur, daß es diese Brennpunkte gibt; ich habe vorher keine Erfahrung gehabt mit psychisch Kranken. Letzten März, als ich nach Lüneburg kam, bin ich relativ schnell ins Stövchen gegangen, und habe da recht eigenwillige Erfahrungen gemacht.
Ich kann mich an die erste Begegnung noch recht gut erinnern. Ich sitze da und trinke in aller Ruhe einen Kaffe; und eine Frau sitzt dort und faucht mich an: „Guck mir gefälligst nicht auf den Busen! Du Schwein!" Und ich hatte ihr ins Gesicht geguckt. Ich habe sie dann nicht weiter kennengelernt in der Zeit; jedenfalls, das erste war eigentlich eine ziemlich heftige Konfrontation; aber es war zugleich auch dann die Erfahrung, daß diejenigen die im Stövchen saßen, sich sofort mit mir solidarisierten. „Hey was soll hier der Scheiß, das ist unser neuer Pastor; ist doch schön, daß er überhaupt kommt, nu´ mach ihn doch nicht gleich an!" Es war auf jeden Fall eine Solidarisierung da.
Ich war dann relativ viel im Stövchen, einmal pro Woche ziemlich lange Zeit, und immer wieder zwischen durch; habe Konfirmanten-Projekte dort gemacht, und anderes. Ich bin kein Fachmann für die Arbeit mit psychisch kranken Menschen, und im engeren Sinne wird die Seelsorge ja über die Arbeit von Pastor Fedrowitz gemacht, aber ich habe den örtlichen Kontakt, die Nähe, es liegt im Bezirk Nord von Michaelis, versucht zu nutzen.
Narrenspiegel: Woher kommt bei Ihnen der Ansporn, mit den Menschen etwas zu machen, die am Rande unserer Gesellschaft stehen?
Ulrich Tietze: Das ist sicherlich sehr stark biographisch bedingt, ich habe sehr früh angefangen, (so mit 18 oder 19) mich für die Arbeit von Anmesty International zu interessieren, wo etwas passiert mit Leuten, die Erfahrung von Folter oder Verfolgungen hinter sich haben.
Und die Frage: Wie kann ich damit theologisch umgehen? Wie kann ich da an den Stellen von Gott reden, wie kann ich das zusammenbringen, solche Erlebnisse auf der Welt und meinen Glauben an Gott. Und ich finde es unheimlich spannend, gerade an diesen Stellen auch , zu sehen, was können wir als Kirche da machen; ich begreife Kirche als einen Verein, der sich an solchen Stellen immer besonders engagieren müßte. Wenn nicht Kirche sich dort engagiert, wer soll das dann noch tun?! Weil ich diese Gesellschaft derzeit so erlebe, daß immer mehr Menschen ausgegrenzt werden, von Kindern bis zu alten Leuten, und ich denke, wir haben da als Kirche eine große Aufgabe.
Also haben Sie auch den Anspruch, gesellschaftlicher
Ausgrenzung entgegenzuwirken?
Ja, und ich kann das sowohl biographisch begründen, als auch von
meinen eigenen Erlebnissen her.
Ich bin einmal ein bißchen durch die Welt getrampt, und habe
auf dieser Schiene Menschen kennengelernt, die im Grunde so an den Rändern
standen; das waren oft sehr spannende Begegnungen. Leute, die einfach
versucht haben, neues zu entdecken, sich anzuprobieren, nicht so den normalen
Weg zu gehen, nicht Lehre, Studium und dann peng, sondern wirklich auch
mal was ganz anderes machen wollten.
Eine der faszinierendsten Begegnungen war im Stövchen: Da ist jemand gewesen, der auch nach Indien getrampt war, der Andreas, ich weiß nicht, ob ihr den kennt... Er hatte Suizidversuche hinter sich, ein ganz faszinierender Mensch, ein ganz liebenswerter Mensch. Ich versuche eher von diesem Jesus her zu arbeiten, der ja nicht auf dem Sofa gestorben ist, sondern als Aufrührer hingerichtet worden ist: Das war ja die Strafe für Sklaven und Aufrührer, für einen, den man eben nicht aushielt, und das ist im Grunde ein Stück vergleichbar mit denen, die man heute nicht mehr aushält.
Das werden ja zunehmend mehr: Das sind auch nicht mehr nur die „klassischen" Randgruppen psychisch Kranke, Obdachlose - sondern es sind wirklich auch alte Leute; wer nicht mehr kommerziell verwertbar ist, der fliegt raus! Auch Kinder werden nur noch als Konsumgruppe gesehen. Das ist jetzt ein wenig zugespitzt, aber den ductus sehe ich schon...
Narrenspiegel: Ist ihnen der Kontakt leichtgefallen, das Zugehen auf die Leute? Das ist ja auch nichtschwierigt, weil man im Umgang mit den Menschen, immer wieder an seine eigenen Grenzen stößt, die eigenen Widersprüche entdeckt...
Ulrich Tietze: In der Herberge zur Heimat habe ich längere Zeit Gesprächsangebote gemacht; da kamen sehr wenige, aber die kamen dann auch intensiv. Im Stövchen waren die Erfahrungen grundverschieden: Es gab Nachmittage, da bin ich nach 20 Minuten abgehauen, weil ich merkte, heute läuft das irgendwie nicht.
Aber ich denke, man darf auch nicht immer so ein Riesen Programm drüberstellen, unter dem Motto: „Wenn nicht heute hier richtig viel abgeht, dann haue ich wieder ab". Es ist auch ganz viel erleben, was dort geschieht, wahrnehmen, die Begegnungen ernst nehmen, sehen, was passiert hier. Das, was da passiert, im Stövchen und in der Herberge, das fndet ja nicht auf dem Mars oder der Venus statt: Das sind Dinge, die hier passieren; es ist ein Stück dessen, was wir hier vorfinden.
Wir hatten einmal im Stövchenrat eine sehr harte Auseinandersetzung mit einer Frau; da knallte es dann gewaltig. Ich hatte hinterher noch Zeit, und dann hab´ ich mich mit den Mitarbeitern und der Frau zusammengesetzt, und ganz lange ein seelsorgerisches Gespräch geführt; ich habe versucht zu vermitteln, und einfach auch nur zuzuhören. Das sind so Erfahrungen, ich weiß nicht, ob man die überall machen kann... Mich hat das sehr bereichert!
Das Interview führten: Frank und Matthias
Textdokumentation: Matthias