Meine Freundin Nora...

... hat mir gestern ein Erlebnis erzählt:


"'Ich habe da doch so ein Fahrrad, ein kleines rotes. Das habe ich schon lange, und ich liebe es sehr. Und es trägt mich jeden Tag dorthin, wo ich möchte. Ich benutze es auch nachts, wenn ich erst spät von der Arbeit komme oder mich mit einer Freundin treffe. Schöne Sache. Nun habe ich doch neulich gemerkt: Mein Vorderlicht ist kaputt. Etwas laienhaft habe ich probiert, es wieder zum Leuchten zu bringen: Habe mal so ein bißchen am Kabel gewackelt, habe auch die Glühbirne ausgewechselt.

Aber dieses Vorderlicht hat nicht wieder angefangen zu strahlen. Dann dachte ich: Bringe das Rad mal in die Werkstatt, der Mechaniker kennt sich aus und wird schon rauskriegen, woran es liegt und mir mein schönes rotes Fahrrad wieder reparieren. Dachte ich, denn ich wollte ja wieder auch im Dunkeln sicher fahren können. Habe das Rad also weggebracht. Der Mechaniker war sehr nett. Der kannte sich wirklich aus. "So, Ihr Licht funktioniert nicht? Da weiß ich, was zu tun ist." Da war ich sehr erleichtert: Dem Mann kannst du vertrauen, und bald ist mein Fahrrad wieder in Ordnung.

Als ich das Rad wieder abgeholt habe, sagte der Mechaniker freundlich:
"Ich habe einen neuen Dynamo eingebaut, jetzt geht das Licht wieder."
Ich habe fröhlich die Rechnung bezahlt, 148,- DM, denn er hat einen sehr guten Dynamo eingebaut, sich wirklich Mühe gegeben und sogar noch die Gangschaltung nachgestellt.

Abends sattele ich gut gelaunt das Rad, klicke den schönen neuen Dynamo an den Reifen und fahre los. Am Mittelberg schalte ich runter in den ersten Gang - und plötzlich im Leerlauf Ärgerlich. Aber der Mechaniker kennt sich ja aus, das muß wohl so sein, vorher ging der erste Gang zwar noch, aber meine Gangschaltung wahr wohl nicht mehr zu retten. Also steige ich eben ab, schiebe schwitzend den Mittelberg hoch, gucke mal so nach dem Licht. Weder das Vorder- noch das Rücklicht brennt.

Das wundert mich ja, der neue teure Dynamo ist ja in Ordnung? - Aber was soll ich sagen: der Mechaniker kennt sich ja aus, es wird schon richtig so sein, mein kleines rotes Fahrrad ist wohl nicht darauf angelegt, daß Gangschaltung und Licht funktionieren. Jetzt besuche ich also meinen Freund auf den Mittelberg nicht mehr, weil ich zu Fuß kaum hochkomme, habe lange nichts mehr von ihm gehört, die Freundschaft ist wohl eingeschlafen. Abends bleibe ich Zuhause und putze mein Rad.

Spätschicht kann ich nicht mehr machen und ich war seit fünf Wochen nicht mehr in der Kneipe, im Kino und beim Chor. Aber ich bin froh, daß ich einen so kompetenten Mechaniker gefunden habe. "Nora," habe ich gesagt, "bist du denn jetzt ganz durchgedreht? Merkst du denn nicht, daß es nicht an deinem kleinen roten Rad liegt, wenn der Mechaniker es nicht reparieren kann und du dann sogar anschließend einen Freund verlierst und abends nichts mehr unternehmen kannst? Und dann hast Du auch noch so viel Geld dafür bezahlt? "Also mir würde so etwas nicht passieren, ich bin doch nicht blind."

Ich war neulich im Krankenhaus, im Landeskrankenhaus, und der Arzt hat mir wirklich geholfen. Ich hatte zuhause immer solche Angst, konnte abends nicht mehr weggehen. Ich kann Ihnen helfen, hat der Arzt gesagt. Er hat mir so kleine blaue Pillen gegeben, die nehme ich jetzt immer. Das wird Ihnen helfen, zur Ruhe zu kommen, hat der Arzt gesagt.
Naja, es ist schon ganz schön hart, ich bin gar nicht so richtig bei mir, ständig müde, mittags schlafe ich drei Stunden, aber ich bin ja im Krankenhaus, da kann ich das.

Die Schwestern wundem sich, daß ich nicht zur Beschäftigungstherapie gehen mag, ich bin ja so müde. Außerdem restauriere ich zu Hause immer alte Möbel vom Sperrmüll zum Verkauf, da langweilt es mich auch einfach fotokopierte Mandalas mit Buntstiften auszumalen.
Aber sie sagen, Beschäftigungstherapie ist gut für mich, und wenn ich nicht hingehen mag, dann liegt es daran, daß ich eine Depression habe, eine Antriebsstörung.
Jetzt nehme ich noch eine große rote Pille gegen die Depression. Es ist ja gut, daß die Schwestern und der Arzt sich da auskennen.

Abends gehe ich um 19.00 Uhr ins Bett, aber es ist ja nicht mehr so, daß ich wegen dieser gräßlichen Angst abends nicht mehr aus dem Haus kann. Der Arzt hat gesagt, daß ich noch ein paar Wochen bleiben muß. Und ich bin froh, daß ich jemanden gefunden habe, der sich auskennt, der genau weiß, was gut für mich ist.
Ich kann das ja auch nicht wissen, ich bin ja kein Fachmann. Aber Nora kann ich nun wirklich nicht verstehen. Wie kann sie so etwas mit sich und ihrem kleinen roten Fahrrad machen lassen???

Swantje Gottesleben