Geschichte einer Tanne

eine Weihnachtsgeschichte

Es war einmal eine Tanne, sie war noch jung, voller Elan und Triebkraft. Sie lebte in einer Schonung mit vielen gleichaltrigen Tannen.

Die kleine Tanne wollte groß werden, immer näher an die wärmende Sonne heran.
Sie reckte mühevoll Zweig für Zweig und wuchs mit allen Kräften, denn sie war eine stolze Tanne und wollte die schönste werden.

Und als sie mühevoll groß geworden war, kam jemand und hackte sie und ihre Freunde einfach um. Sie wurden nicht sofort getötet. Sie würden noch so lange leiden, bis ihr Vorrat an Lebenskraft aufgebraucht sein wird. Es würde also ein langsamer schleichender Tod werden. Die Tanne weinte.

Sie spürte, wie man sie packte und zu den vielen anderen abgehackten Tannen auf einen Wagen schmiß. Der Mensch schien die Schreie der Tannen nicht zu bemerken. So brachte man sie aus dem Wald in die Stadt. Dort wurde ihnen ein Netz übergestülpt, die Zweige wurden nach oben gebogen und die Tanne war gefangen. Sie konnte nicht mal mehr ein einziges ihrer unzähligen Zweiglein bewegen. Mit den anderen wurde sie auf den kalten Asphalt der Stadt gestapelt, und viele Menschen guckten sie an.

Irgendwann nach Stunden kam ein Mann und suchte die kleine Tanne heraus.
Er legte runde Blechscheiben auf den Tisch und hob die Tanne hoch.
Sie hatte Angst. Was wurde jetzt passieren?

Unsanft schnallte er sie auf seinen Dachgepäckträger und wieder wurde sie durch die Stadt gefahren. Am scheinbaren Ziel angekommen, wurde sie auf den kalten Boden gelegt.
Sie hatte Durst, aber man hatte ja ihre Wurzeln abgehackt. Trotzdem breitete sich in ihrem Körper die Hoffnung aus, doch noch eine Chance zu bekommen und wieder eingepflanzt zu werden.
Doch sie irrte.

Statt dessen wurde sie in ein großes Zimmer eines Hauses geschleppt und in eine Art Schraubstock geklemmt damit sie aufrecht stand.
Dann kam die Frau des Mannes, drehte den Baum etliche Male und schnitt, weil sie meinte, die Tanne sei nicht symmetrisch, ihr eine Menge Triebe ab. Das tat so unsäglich weh, aber niemand hörte ihr Schluchzen und Schreien.

Dann wurde sie erneut gefesselt, mit einer Kette an der elektrische Lichter hingen, die man ihr dann an die Zweige quetschte. Dann wurde an ihre Zweige allerlei buntes Zeug gehängt, und sie hatte Mühe, die Zweige nicht hängen zu lassen, denn sie war schon sehr schwach.

Die Menschen jedoch schienen sich zu freuen.

Es vergingen viele Tage, die Tanne war nur noch seiten bei Bewußtsein, aber sie spürte, daß alle sie in ihrem Elend schön fanden. Niemand sah, daß sie ganz langsam starb. Irgendwann fielen die ersten Nadeln und dann immer mehr.
Die Frau wurde böse.
Die Tanne hörte sie sagen: "Mann, was hast Du uns denn da für eine Tanne angeschleppt, der schöne neue Teppich, alles voller Nadeln."
Daraufhin wurde alles von ihr abgerissen, die Tanne rang um die Besinnung.

Sie wurde noch ein letztes Mal ins Freie getragen und ein letztes Mal atmete die Tanne die frische Nachtluft, bevor der Mann sie zu Brennholz zersägte und sie endgültig starb.

Und mit ihr tausende und abertausende.

Jahr für Jahr.

Gewachsen, um zu sterben.

B. Böckmann, 19.12.1993