Weihnachten anders ...


Hallo, mein Name ist Monica Hütte Camacho und ich bin seit Oktober1995 nicht mehr in stationärer Therapie.

Mein Weihnachten 1997 ist irgendwie anders verlaufen als erwartet.
Es war zwar mit sehr viel "Schmerz" und chaotischen Gefühlen verbunden. Trotzdem oder gerade deswegen, möchte ich gerne von diesem Tag berichten. Hier nun ein Teil meiner Tagebuchaufzeichnungen:

24.12.1997

Heute morgen bin ich extra früh aufgestanden um zur "Göttinger Tafel" zu gehen. Erst wollte ich nicht, denn mir ging es nicht so gut. Aber es wäre dumm von mir gewesen an so einem Tag nicht dorthin zu gehen, denn gerade an Weihnachten bekommt die "Göttinger Tafel" sehr viele Lebensmittel gespendet, die es sonst gar nicht oder nur in geringen Mengen gibt.

Also machte ich mich auf den Weg und stand gegen 8.30 Uhr dort vor der Tür. Einlaß war ab 9.00 Uhr. Ich stand da und fühlte mich total beschissen. Ich weiß auch nicht, aber irgendwie schämte ich mich. Ich war schon öfter bei der "Göttinger Tafel" und sonst hat es mir nicht so arge Schwierigkeiten bereitet. Vielleicht weil Weihnachten war?! Ich fühlte mich wie eine Bettlerin, die auf Almosen aus war. Naja, irgendwie war es ja auch so. Ein ziemliches Scheißgefühl.

Eigentlich ist es ja gut, das es so etwas gibt, aber in dem Moment sagte mir das leider nur mein Verstand. Die halbe Stunde, die ich warten mußte, kam mir wie eine Ewigkeit vor und ich wäre mehr als einmal liebend gerne gegangen. Es war gräßlich dort mit den anderen Menschen zu stehen. Ständig kamen Busse und Passanten vorbei. Einige von ihnen schauten zu uns rüber. Was mochten sie wohl denken? Bestimmt nicht nur etwas Freundliches. Mein Gefühl sagte mir: Tu dir das nicht an, geh einfach weg! Aber mein Verstand wiederum befahl mir: Bleib, sei kein Narr, dir stehen die Lebensmittel zu, auch an Weihnachten.
Ich blieb. Aber ich fragte mich, warum ich das Ganze nicht etwas lockerer nehmen kann. Quasi als vorübergehende Krise, die vielleicht jeder einmal hat, die aber nicht weiter schlimm ist.

Zum normalen Essen bekam jeder noch ein Päckchen, das irgendwelchen Schüler gespendet hatte. Es war in Geschenkpapier eingepackt, so, daß man, nicht gleich den Inhalt sehen konnte. Ein Lächeln huschte über mein Gesicht, aber gleich stellte sich die Peinlichkeit der Situation wieder ein, und so etwas wie das darfst du nicht annehmen ging mir durch den Schädel.
Ich habe es dann doch angenommen und machte mich schleunigst wieder auf die Socken.

Ich lief ich noch eine Weile ziellos umher. Eigentlich wäre ich gerne zu "Kluntje" gegangen um dort einen Kakao zu trinken, aber nachdem ich bei der "Göttinger Tafel" war, dachte ich, daß es nicht o.k. wäre. Also fuhr ich nach Hause. Gegen 11.00 Uhr kam ich dort an und packte erstenmal das Päckchen aus.

Die Kids hatten wirklich an alles gedacht: Ein Pfund Kaffee, eine Tafel Schokolade, ein paar Kerzen, ein Diätweihnachtsmann und eine Packung Hustenbolchen. Dabei lag noch ein kleiner Zettel, worauf die beiden Jungen, die das Päckchen zurecht gemacht hatten, dem Empfänger "Frohe Weihnachten" wünschten. Mir war ganz schön beklommen zumute. Klar, ich freute mich, aber es war...

Nach diesem ganzem Gefühlschaos legte ich mich erst einmal ins Bett um zu pennen. Abschalten, bloß nichts mehr fühlen. Nach zwei Stunden wurde ich wach und machte mich so langsam fertig für den Nachmittag. Ich war relativ gut drauf. Zumindest etwas besser als am Vormittag.

Gegen 16.45 Uhr ging ich in die Stadthalle. Dort war ein offenes Weinachtsfest unter dem Motto "KEINER SOLL EINSAM SEIN". Da ich vorher bei einem Familiegottesdienst war, kam ich etwas zu spät und die meisten Plätze waren schon besetzt. Ich stand in der Tür und wäre beinahe wieder gegangen, da mir der Mut fehlte durch den Raum zu gehen um mir einen freien Platz zu suchen. Gott sei Dank kam einer der Helfer auf mich zu und fragte mich, ob ich schon einen Platz hätte und wenn nicht, wo ich gerne sitzen wurde.

Nach kurzem Suchen konnte ich mich in der Nähe der Tür an einen Tisch setzen. Ich bekam noch eine Tasse Kaffee und ließ erst einmal alles auf mich einwirken.. Ich war erstaunt, wie viele Menschen hier waren. Ältere, jüngere und ganze Familien mit ihren Kindern. Die Helfer waren sehr aufmerksam und gingen immer mit ein paar Getränken durch die Reihen. Die allgemeine Stimmung schien sehr gut zu sein. Es wurden alte Schlager nachgespielt und es fanden sich immer zwei, drei Leute, die aufstanden und zu der Musik tanzten.
Mir ging es so la-la.

Ich war froh über die Aufmerksamkeit der Helfer und auch, daß so viele Menschen hier waren, denen es scheinbar ähnlich ging wie mir.
Aber nach einiger Zeit kippte das ganze und ich versackte wieder einmal in meinem Gefühlschaos. Hier ging es mir im Prinzipähnlich wie bei der "Göttinger Tafel": Einerseits war ich froh dabei sein zu können, andererseits schämte ich mich und konnte mich gar nicht so recht freuen, obwohl das Programm sehr gut gemacht war. Mir war zum Heulen zumute, am liebsten wäre ich rausgerannt.

Ich blieb aber trotzdem oder gerade deswegen bis zum Ende. Am Schluß gab es für jeden noch ein kleines Geschenk, Backwaren aus Italien. Die Helfer, die Geschenke verteilten, gingen auch ein paar mal an mir vorbei, aber ich machte keine Anstalten zu sagen, daß ich auch eines haben wollte. Ich schämte mich, und außerdem wollte ich nicht so aufdringlich sein wie einige andere, die sich die Geschenke einfach so krallten. Wahrscheinlich hätte ich auch keines bekommen, wenn nicht plötzlich ein Arbeitskollege gekommen wäre und mir seines auf den Tisch gestellt hätte. Ich war total überrascht, beschämt und glücklich.

Es war inzwischen 20.00 Uhr und Zeit zu gehen. Ich hatte schon meine Jacke an und wollte gerade davon stürmen als mir eine Idee kam, wie ich mich vielleicht etwas besser fühlen konnte. Ich ging noch einmal in den Raum, wo wir gesessen hatten und bot einem der Helfer an, beim Aufräumen mit.anzupacken. Er war überrascht, schien sich zu freuen, aber lehnte dankend meine Hilfe ab. Schade, es hätte mir sehr viel bedeutet. Aber statt etwas zu sagen, machte ich mich mit einem unerträglichen Gefühl davon. Ich kam mir so schäbig, so fehl am Platz und so unnütz vor. All die Gefühle, die sonst im Jahr gut dosiert einzeln hochkommen schienen mich nun überrennen zu wollen. Aber ich wollte es nicht zulassen. Nicht heute!

Ich lief zwei Stunden durch die Kälte, und ging dann um 22.00 Uhr in die Christmette. Als der Gottesdienst vorbei war, ging ich noch mal nach vom zum Altar, wo eine große Krippe aufgebaut war. Sie war wunderschön. Ich hätte stundenlang davor stehen können, denn sie schien mir ein Stück inneren Frieden wieder zu geben. Doch leider drängelten die Leute hinter mir, also mußte ich weiter gehen. Es bestand die Möglichkeit noch einen Moment in der Kirche zu bleiben, etwas zu trinken und ein wenig zu plaudern. Ich war hin und her gerissen. Sollte ich bleiben oder nicht? Ich blieb nicht!

All die Gefühle von diesem Tag schienen mich wieder einzuholen. Ich ging. Erst langsam, dann immer schneller. Aber ich fühlte mich trotz meiner "Schnelligkeit" unheimlich traurig und schwer, fast wie ein Stein. Nein, ich fühlte mich in dem Moment eher wie eine Null: Hat nichts und ist nichts! Ich schien die ganze Zeit fehl am Platze gewesen zu sein. Bei der "Göttinger Tafel", dem Familiengottesdienst, in der Stadthalle, bei der Christmette.... (?)

Plötzlich fiel mir ein, daß an der Stadthalle Tannenbäume liegen, die bis zum Nachmittag nicht verkauft werden konnten. Sie sollten nun auf den Müll. Ich ging dort hin und versuchte in der Dunkelheit einen schönen, nicht zu schweren auszusuchen. Ich wollte ihn einer Freundin schenken, die total enttäuscht, war, daß sie sich dieses Jahr keinen leisten konnte. Nach einigem Suchen fand ich auch schließlich einen. Da stand ich nun um 0.30 Uhr mit einem Tannenbaum in der Stadt und wußte nicht wie ich in nach Hause bzw. zu meiner Freundin transportieren sollte.

Busse fuhren keine mehr, für ein Taxi reichte mein Geld nicht. Da kam mir eine Idee: Ich lud mir den Baum auf meine Schulter und war fest entschlossen ihn bis vor die Haustür meiner Freundin zu tragen (bis zum Hagenberg). Es sollte sozusagen mein "Kreuzweg" werden. Quasi als "Wiedergutmachung" oder "Buße" für die Almosen.

Es war gar nicht so, leicht, aber als ich den Baum erstenmal richtig auf meiner Schulter plaziert hatte ging es etwas besser. Ich wurde ganz schön dämlich von den Leuten angeschaut und teilweise nicht gerade freundlich angequatscht. Einige glaubten doch tatsächlich ich hätte die Tanne irgendwo geklaut. Es war mir egal, was die Leute glaubten. Ich wußte nur, daß ich es schaffen wollte. Nein, ich mußte es schaffen!

So lief ich also mit Weihnachtsmusik im Ohr, ohne Pause, mit schmerzenden Schultern und etwas besserer Laune los. Etwa eine Stunde später kam ich ziemlich fertig bei meiner Freundin an. Ich hatte es tatsächlich, geschafft. Was für ein Gefühl!?!
Sie hat sich tierisch gefreut, wir rauchten noch eine und dann ging ich nach Hause und viel totmüde ins Bett.

Tja, nicht unbedingt ein Weihnachtsfest, was ich jedes Jahr haben möchte, aber es hat mir trotz allem gezeigt, wo ich jetzt stehe und daß ich mit diesen extrem miesen Gefühlen besser umgehen kann obwohl sie immer noch sehr schmerzhaft sind. Und für nächstes Jahr habe ich mir überlegt wieder in die Stadthalle zu gehen. Doch diesmal hoffentlich als eine der Helferrinnen.

Monica Hütte Camacho