Soziale Autonomie - „Sozial-Phobie" als Lernziel

Früher irrtümlich Sozial-Phobie genannt, bietet die vermeintliche Kontaktangst große Entwicklungschancen, insbesondere die Chance zur vollständigen persönlichen Autonomie.  Unabhängig von Bekannten, Freunden, einem Partner, schaffe ich es mit der - sozialen Autonomie, völlig autark, selbständig und frei zu leben.

Wo kein Kontakt stattfindet, gibt es auch keine Kontaktschwierigkeiten, wo keine Beziehung, da auch kein Beziehungsstreß.  Ich muß mich, als beziehungsautonomer Mensch, mit keiner Wohngemeinschaft herumstreiten, kein Arbeitskollege, kein Parteifreund oder -feind macht mir das Leben schwer, keine Entscheidung, wie ich die Freizeit gestalten soll, quält mich, da ich auch keine Freizeitinteressen habe.

Dank stufenweiser Abstumpfung, nein, sagen wir besser, sozialer De-Sensibilisierung und Ent-Fremdung, leiden und reiben wir uns nicht mehr an sozialen Widerständen, wir erledigen nur noch das Nötigste, zum Beispiel Behördengänge, benutzen den Kopf nur noch zur Nahrungsaufnahme.  Unser Blick wird starr, wir beobachten erst minutenlang Ziele, zunächst die Natur, einen Baum, dann stundenlang ein Haus, dann ein Möbelstück, dann eine Wand, unser Blick wird immer gegenstandsloser, geht ins Leere.

Zunächst unterstützen uns schwere Tranquilizer und Neuroleptika dabei, später versetzen wir uns durch Auto-Suggestion selber in diesen Zustand: „Mein Kopf ist ganz leer, in mir ist keine Liebe, kein Haß, keine Sehnsucht, kein Ärger, mir ist alles gleichgültig, auch ich mir selber, ich leide nicht mehr am Leben, gebe mich mit mir und meinem Zustand zufrieden.  Andere Menschen interessieren mich schön lange nicht mehr, denn ich brauche keine Menschen, ich meide sie, mein ganzes Glück ist leerlaufen, laufen, bis ich müde bin, und leerdenken, das heißt, denken, bis kein Gedanke mehr in meinem Kopf ist. Ich bin sozial-autonom, ein soziales Vorbild für jene, die an Kontakten und der Liebe leiden".

„Werdet von der Liebe entwöhnt, dann habt Ihr auch keine Liebesqualen", rufe ich den Kontaktsüchtigen zu.  „Ich bin glücklich, so glücklich wie eine Kuh in Trance, denn ich bin der Herr meiner Gefühle, also sozial autonom".

Sozial so autonom eingestellt, überstehen wir Hochsicherheitstrakt, Isolation aller Art, wo andere schon lange nach Mama und Papa schreien würden.  Brauchen wir wirklich einmal Abwechslung und Urlaub, fahren wir in die schöne Pfalzklinik, und starren mit anderen Sozial-Autonomen in die schönen Weinberge.

Manfred Dechert

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