"Weser Kurier" Nr. 256 vom 2. November 1998, S. 13

Zwei Jahre ohne Grund in der Psychiatrie

Junge Frau war schwierig, aber gesund / Landgericht verurteilte Klinik Dr. Heines zum Schadensersatz


Von unserem Redaktionsmitglied
Bernd Meier

Eine Frau, die als vermeintlich psychisch Kranke 23 Monate in der Klinik Dr. Heines verbrachte, wird ein Schmerzensgeld und eine Rente erhalten. Die 7. Kammer des Landgerichts entschied, daß die Frau gegen Ihren Willen untergebracht und behandelt wurde. Die Ansprüche seien deshalb "dem Grund nach gerechtfertigt", über die Höhe ist noch zu entscheiden. Die Frau fordert 40 000 Mark Schmerzensgeld und eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit.

Vera Stein (siehe Kasten) stammt aus einer gutbürgerlichen Familie in Hessen. Sie war als Kind schwierig und sehr aggressiv und wurde deshalb fast 20 Jahre als psychisch Kranke behandelt. Weil sie gegen ihre Unterbringung rebellierte und dazu neigte, sich selbst Verletzungen zuzufügen, wurde sie mit starken Medikamenten in hohen Dosen "behandelt".

"Rückblickend kann davon ausgegangen werden", steht im Gutachten eines Psychiaters, "daß bei Frau Stein zu keinem Zeitpunkt eine Psychose... vorgelegen hat". Der Verdacht sei offenbar gestützt auf "wechselnde, schwer einzuordnende Verhaltensstörurigen". Die Diagnose des Gutachters: "Reifungskrise mit erheblicher innerfamiliärer Problematik."

Vera Stein, 1958 geboren, erkrankte mit drei Jahren an Kinderlähmung. Sie lernte wieder laufen, zog aber ein Bein nach und wurde deshalb oft gehänselt. Trotzdem waren ihre Leistungen in der Schule gut, sie machte die Mittlere Reife.

Als sie mit 16 Jahren zum ersten Mal in eine Klinik kam, bemerkte man sehr wohl, daß Vera Stein nur zu Hause oder in der Psychlatrie aggressiv war, nie in der Schule oder im Reitstall, in den sie so gern ging. Gleichwohl wurde die Diagnose "psychisch krank" nie ernsthaft in Zweifel gezogen. Dabei mag eine Rolle gespielt haben, daß schon die Großmutter und Mutter psychiatrisch behandelt worden waren.

"Ihre Eltern fühlten sich überfordert durch ihre Aufsässigkeit und reagierten mit Einschüchterung, das heißt: mit Prügeln und massiver Schuldgefühlsentwicklung", heißt es in dem Gutachtendes Psychiaters. Die Folge: Vera Stein wurde bis zum 23. Lebensjahr in fünf psychiatrischen Kliniken "behandelt".

Die längste Zeit verlebte sie in der Bremer Klinik Dr. Heines, Ende der siebziger Jahre zunächst 20 Monate, später noch einmal drei. Vera Stein wurde in der geschlossenen Station untergebracht und an ihr Bett ,fixiert", wenn sie sich nicht fügen wollte. Sie versuchte mehrmals davonzulaufen, wurde aber stets gefaßt und zurückgebracht.

Als sie zum zweiten Mal nach Bremen kam, hatte Vera Stein ihre Stimme verloren, es dauerte zehn Jahre, bis sie wieder richtig sprechen konnte. Sie machte eine Ausbildung zur Technischen Zeichnerin, ist heute aber erwerbsunfähig und sitzt im Rollstuhl.

Mit ihrer Rechtsanwältin Ute Mix erreichte sie nun, daß die Klinik zum Schadensersatz verurteilt wurde. Da Vera Stein volljährig war, hätte sie ihre Einwilligung geben müssen, und das sei nicht geschehen, urteilten die Bremer Richter. Eine Unterbringung gegen den Willen der Patientin sei nur möglich, wenn sie von einem Gericht angeordnet werde. Die Klinik hat gegen das Urteil Berufung eingelegt, darüber wird das Oberlandesgericht Anfang 1999 entscheiden.




"Weser Kurier" Nr. 256 vom 2. November 1998, S. 13

„Abwesenheitswelten"


Vera Stein schrieb ein Buch über ihre Zeit in der Psychiatrie

(bm) Vera Stein ist das Pseudonym, unter dem die Frau, die 20 Monate in der Klinik Dr. Heines untergebracht war, 1993 ihre Lebensgeschichte veröffentlicht hat. "Abwesenheitswelten - Meine Wege durch die Psychiatrie " ist der Titel dieser Autobiographie, die seit einiger Zeit auch als Fischer Taschenbuch erhältlich ist.

Das Buch ist erschütternd, weil es bei aller Sachlichkeit, mit der es geschrieben ist, ein unfaßbares Maß an Hilflosigkeit von Menschen offenbart, deren Beruf doch eigentlich das Helfen ist. "Dabei stellt sich heraus, daß das Verstehen gar nicht so schwer wäre", schreibt der Psychiater Professor Reinhart Lempp in seinem Vorwort, "ginge man nur auf die angeblich psychisch Kranken auf dieselbe Weise zu, wie man auf andere Menschen oder auf Kinder zugehen sollte: offen und unter der primären Voraussetzung, daß derPatient einen Grund für sein Verhalten, seine Äußerungen und Reaktionen hat und auch ein Recht dazu".

Nach Ansicht von Professor Lempp ist das Buch von Vera Stein "eine Art, Pflichtlektüre für alle, die mit sogenannten psychisch Kranken umgehen, in welcher Funktion auch immer, insbesondere für Psychiater". Auch könne die Lektüre einen Anstoß dazu geben, sich über das Wesen psychischer Krankheiten, "oder was wir dafür halten', erneut Gedanken zu machen.

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